«Ich war kurz davor aufzugeben»
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Marjaan (18) aus Afghanistan:«Ich war kurz davor aufzugeben»

Fran Equiza ist Unicef-Chef in Afghanistan
«Ich rede manchmal täglich mit den Taliban»

Fran Equiza (53) leitet die Unicef-Mission in Afghanistan, wo 29 Millionen Menschen von internationaler Hilfe abhängig sind. Der Spanier über Hoffnung, Gespräche mit den Taliban und schlaflose Nächte.
Publiziert: 25.08.2023 um 17:36 Uhr
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Aktualisiert: 26.08.2023 um 14:44 Uhr
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Fran Equiza mit Primarschülerinnnen in der afghanischen Provinz Helmand.
Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft

Gibt es eine Begegnung seit Ihrem Amtsantritt im Januar, die Ihnen besonders geblieben ist?
Fran Equiza: Ich traf dieses 15- oder 16-jährige Mädchen in der afghanischen Region Badghis. Sie absolviert als erstes von sechs Geschwistern eine Ausbildung – in einer unserer Gemeindeschulen. Ich erzählte ihr, dass meine zehnjährige Tochter sich manchmal beschwert, wenn sie zu viele Hausaufgaben hat. Das Mädchen schaute mich an und sagte: Dann erzähl ihr meine Geschichte. (Schweigt.) Das lässt mich nicht mehr los.

War dieses Mädchen optimistisch, was seine Zukunft angeht?
Ich weiss nicht, ob Optimismus das richtige Wort ist. Aber ich würde sagen, sie hatte Hoffnung, weil ihre Situation heute besser ist als ihre Situation gestern.

Teilen Sie dieses Gefühl der Hoffnung?
Ja.

Wieso?
Weil wir in den letzten sieben Monaten für 20 Millionen Menschen den Zugang zu medizinischer Versorgung sichergestellt haben. Weil wir acht Millionen Kinder auf Unterernährung untersucht und 400’000 von ihnen behandelt und vor dem Tod gerettet haben. Weil 800’000 Kinder in unseren oder in von unseren Partnern unterstützten Schulen etwas lernen. Weil wir dabei helfen, ehemalige Kindersoldaten in die Gesellschaft zu reintegrieren. Und weil ich sehe, wie unsere Leute trotz widriger Bedingungen nicht aufgeben. Hoffnung? Ja, ich habe Hoffnung.

Fakt ist, dass seit zwei Jahren die Taliban regieren und Mädchen ab der Sekundarstufe vom Schulunterricht ausschliessen. Wie wirkt sich das auf die Gesellschaft aus?
Die Auswirkungen sind enorm und umfassen die ganze Gesellschaft. Fangen wir bei den Betroffenen an: Afghanische Mädchen sollten ihren Tag wie alle anderen Mädchen verbringen: zur Schule gehen, lernen, Gleichaltrige treffen, damit sie sich zu mündigen Bürgerinnen entwickeln können. Stattdessen verbringen sie nun ihre Tage zu Hause. In manchen abgelegenen Regionen gibt es weder Elektrizität, Internet noch Fernsehen. Das ist sehr deprimierend für die Mädchen – viele entwickeln deshalb psychische Probleme. Oder sie bekommen physische Probleme, weil sie Haushaltsarbeiten verrichten müssen und Dinge tun, wie Wasser holen – wobei sie sich Gefahren aussetzen.

Welche Art von Gefahren?
Alles, was Sie sich vorstellen können. Landminen, sexuelle Belästigung, Kriminalität. Doch der Effekt reicht weiter.

Inwiefern?
Den jüngeren Mädchen fehlen die Vorbilder. Sie sehen: Zur Schule gehen kann man als Mädchen nur bis zu einem gewissen Alter, danach ist es fertig. Die Brüder wiederum glauben, es sei normal, dass Mädchen nicht zur Schule gehen. Wir haben Mitarbeiter, die in Tränen ausbrechen, wenn sie davon erzählen, wie ihre Töchter sie fragen: Papa, dürfen Töchter von Unicef-Mitarbeitern vielleicht weiter zur Schule gehen?

Was bedeutet das Verbot langfristig?
Wer werden die Medizinerinnen der Zukunft in Afghanistan? Wer werden die Hebammen? In diesem Land gehen Frauen nur zu weiblichem Gesundheitspersonal. Was glauben Sie, wird der Effekt sein, wenn es die nicht mehr gibt? Den Preis werden wiederum die Frauen zahlen. 

Was ist heute die Perspektive eines jungen Mädchens im ländlichen Afghanistan?
Sie kann hoffen, dass sie früher oder später zurück zur Schule kann. Der Zugang zu Bildung ist in Afghanistan so oder so schon eine riesige Herausforderung. Fünf Millionen Kinder besuchen keine Schule, weil sie zu arm sind und der Weg zu weit ist. Wir versuchen, dem mit unseren Gemeindeschulen entgegenzuwirken. Das ist keine optimale Lösung. Aber besser als nichts. 

Viele Eltern unterrichten ihre Töchter nun illegal.
Es gibt dazu keine offiziellen Zahlen, aber wir hören viel davon. Der Hunger nach Bildung ist enorm, und es gibt viele Familien, die ein grosses Risiko auf sich nehmen, um ihren Töchtern Perspektiven zu bieten. 

Wie oft reden Sie mit Vertretern der Taliban?
Wöchentlich. Manchmal täglich. 

Wie ist der Umgang?
Höflich. Sie respektieren uns, auch weil sie wissen, dass wir uns in erster Linie nach den Bedürfnissen der Bevölkerung richten. Dazu kommt, dass in Afghanistan Gastfreundschaft sehr, sehr wichtig ist. Das halten auch die Mitglieder der De-Facto-Regierung hoch. Aber ich sage ihnen auch ganz offen Dinge, die sie nicht gern hören, zum Beispiel, dass Mädchen wieder in die Schule sollten. 

Ist Ihre Präsenz in Afghanistan nicht so etwas wie eine Legitimation für die Taliban?
Ich wüsste nicht, warum. Unicef operiert überall auf der Welt. Unser Mandat ist es, die Rechte von Kindern auf der ganzen Welt zu schützen. Und das tun wir. Ausserdem braucht jeder Konflikt, jede Krise Zeugen. Es gibt nicht mehr viele Organisationen, die wirklich berichten können, wie es in Afghanistan ist. Wir können es. 

Viele westliche Organisationen sind aus Sicherheitsgründen aus Afghanistan abgezogen. Wie ist die Situation in Kabul derzeit?
Nun, Kabul ist noch immer nicht Genf. Aber die Zahl der Vorfälle mit humanitären Helfern hat sehr stark abgenommen. Wir können heute in den meisten Provinzen jederzeit überallhin. Aber natürlich bleiben wir sehr wachsam. Wir leben hier in einem geschlossenen, gesicherten Areal.

Hat sich die Sicherheit auch für die Bevölkerung verbessert?
Auf jeden Fall. Ein Beispiel: Unsere Gesundheitseinrichtungen werden überrannt. Aber die Leute sind nicht kränker als vorher. Sie sagen uns: Vorher trauten wir uns nicht auf den Weg. Es konnte zu viel passieren. Kriminelle passten ihnen ab – oder sie mussten an Checkpoints Bestechungsgelder zahlen, um passieren zu können. Diese Phänomene haben unter der De-Facto-Regierung stark abgenommen. 

Was ist derzeit Ihre grösste Sorge?
Darf ich nur eine nennen? Es sind zu viele. 

Wie Sie wollen.
Ich habe viele schlaflose Nächte. Eine meiner grössten Sorgen ist, dass die internationale Gemeinschaft Afghanistan vergisst. Meine Mutter sagte mir: «Was tut ihr da? Es bessert sich doch seit Jahrzehnten nichts.» Und ich kann das ja sogar verstehen. Doch wenn wir Afghanistan sich selbst überlassen, wären die Konsequenzen grässlich. 

Was wären die Folgen?
In Afghanistan sind 29 Millionen Menschen von humanitärer Hilfe abhängig. Und das bei einer Bevölkerung von 40 Millionen. Seit die Uno solche Statistiken erfasst, gab es kein Land auf der Welt mit vergleichbaren Zahlen. Wenn wir Afghanistan im Stich lassen, können wir sehr bald damit beginnen, Tote zu zählen.

Viele Bürger haben Angst, dass Spenden für Afghanistan bei den Taliban landen.
Wir geben alles Geld direkt an die Bevölkerung. Kein Cent geht an die De-Facto-Regierung. Wir kontrollieren das so genau wie nirgendwo sonst auf der Welt.

Aber was sagen Sie einer Schweizerin oder einem Schweizer, der sagt: Wir können nicht allen helfen.
(Schweigt.) Es fällt mir schwer, darauf zu antworten. Fragen Sie, wieso das Leid anderer uns betreffen soll? Aus Menschlichkeit! Aber es gibt weitere Gründe. In vielen Ländern Europas sind Afghanen jetzt schon die grösste Flüchtlingsgruppe. Es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen, um sich zu denken, dass eine zwölfjährige Afghanin angesichts der aktuellen Situation ihre Zukunft woanders sieht. Dazu kommt eine geopolitsche Komponente: Die Geschichte hat uns gezeigt, dass ein instabiles Afghanistan die ganze Welt destabilisieren kann. Aber ich verstehe, dass für viele in Europa andere Krisen näher sind.

Spüren Sie ein Desinteresse auch in Bezug aufs Geld?
Desinteresse ist ein zu grosses Wort. Aber ja: Wir haben zu wenig Geld. Überall werden Entwicklungsgelder gestrichen, in den USA, in Grossbritannien. Das spüren wir und andere Organisationen stark.

Welche Folgen hat der Krieg in der Ukraine für Afghanistan?
Ohne zynisch klingen zu wollen: Jedes Mal, wenn über die Ukraine berichtet wird, ist Afghanistan aus den Schlagzeilen. Doch der Krieg betrifft das Land auch ganz direkt: Die Ukraine ist ein grosser Weizenproduzent, und durch die zeitweise Blockade stiegen die Preise. Schon 2 Cents mehr pro Kilo können in Afghanistan das ganze Gefüge durcheinanderbringen. Brot ist hier Hauptnahrungsmittel. Ohne ukrainischen Weizen hungert Afghanistan.

Unicef sammelt Geld, um Kindern weltweit den Zugang zu Bildung zu ermöglichen.

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