Auf einen Blick
- Juristen dominierten jahrzehntelang die Landesregierung, nun schwindet ihr Einfluss
- Von 122 Bundesratsmitgliedern hatten 72 eine juristische Ausbildung
- Kritiker warnen: Die Verwaltung könnte deswegen noch mehr Einfluss bekommen
Nach dem Rücktritt von Mitte-Frau Viola Amherd (62) droht dem Bundesrat ein historischer Wendepunkt. Die Mitte-Vertreterin ist derzeit die einzige Juristin im Gremium. Ein Blick auf die potenziellen Nachfolger zeigt: Es ist gut möglich, dass künftig niemand mehr mit juristischem Hintergrund in der Landesregierung sitzen wird. Das gab es seit der Gründung des Bundesstaates im November 1848 noch nie!
Juristinnen und Juristen dominierten jahrzehntelang die Landesregierung. Lange Zeit stellten sie die Mehrheit im Siebnergremium. Von den bisher 122 Mitgliedern des Bundesrates hatten nicht weniger als 72 eine juristische Ausbildung. Darunter so illustre Namen wie Christoph Blocher (84, SVP) oder Elisabeth Kopp (1936–2023, FDP).
Noch im Jahr 2007 sassen fünf Juristinnen und Juristen im Bundesrat – drei davon mit Anwaltspatent. Und es gab sogar Phasen, in denen der Bundesrat nur aus Rechtsgelehrten bestand.
Doch in den vergangenen Jahren hat ihre Zahl stark abgenommen. Amherd war bis zu ihrer Wahl als selbstständige Advokatin und Notarin tätig. Sie folgte auf ihre Parteikollegin Doris Leuthard (61), die am Ende ihrer Amtszeit ebenfalls die einzige Juristin in der Regierung war.
«Juristischer Aderlass» bereitet Sorgen
Warum drängten Jus-Absolventen so häufig in den Bundesrat? Politik ist ein Handwerk mit Paragrafen. Juristinnen und Juristen bringen Fähigkeiten mit, die in der Politik wichtig sind. Sie kennen sich bestens mit Gesetzen aus. Ausserdem können sie aufgrund ihrer Ausbildung komplexe Themen gut analysieren und ihre Argumente überzeugend formulieren – das ist in politischen Debatten wertvoll. Deshalb sind Juristen auch im Parlament traditionell stark vertreten.
Das mögliche Juristen-Blackout im Bundesrat wurde bereits vor Jahren zum Thema. 2010 warnte die «NZZ»: «Dem Bundesrat gehen die Juristen aus.» Wobei damals immerhin noch drei Juristen im Gremium vertreten waren.
Kritiker befürchten, dass die Verwaltung mit all ihren Juristen noch mehr Einfluss gewinne, wenn im Bundesrat eine Person mit juristischem Sachverstand fehle. Er habe beobachtet, dass durch den «juristischen Aderlass» in der Landesregierung die Macht der Bundesverwaltung angewachsen sei, sagte der Berner Rechtsprofessor Peter V. Kunz (59) schon vor zwei Jahren dem «Tages-Anzeiger». «Ich bin sicher, dass die Juristen in der Bundesverwaltung glücklich sind, weil sie nicht hinterfragt werden.»
Hinter vorgehaltener Hand gibt das Thema auch bei Mitte-Politikern zu reden, wie Blick weiss. Die Partei versteht sich schliesslich als staatstragende Kraft. Um die Amherd-Nachfolge zu regeln, wurde eine Findungskommission eingesetzt.
Aussichtsreiche Personen sagen ab
Es ist jedoch ziemlich fraglich, ob es eine Juristin oder ein Jurist aufs Ticket der Partei schafft. Mit Fraktionschef Philipp Matthias Bregy (46, VS) sowie den Ständeratsmitgliedern Isabelle Chassot (59, FR), Benedikt Würth (56, SG) und Stefan Engler (64, GR) haben sich aussichtsreiche Köpfe mit Jus-Abschluss aus dem Rennen genommen.
Nicht ausgeschlossen wäre aus der Juristen-Gilde etwa eine Kandidatur von Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (60, BL) oder Regierungsrat Markus Dieth (57, AG). Sie wurden jedoch von Beobachtern zuerst nicht in die engere Wahl gezogen. Ob sich das bald ändert?