Es fehlt an allen Ecken und Enden. Heute könne die Schweiz bei Bedrohung die Luftverteidigung nur gerade einen Monat lang aufrechterhalten, hatte Armeechef Thomas Süssli (57) nach Beginn des Ukraine-Kriegs gewarnt. Die Armee sei in den vergangenen 30 Jahren kaputt gespart worden, erklärte auch Verteidigungsministerin Viola Amherd (61) am Mittwoch vor den Medien. Es sei klar, dass es einige Jahre brauche, um das zu korrigieren.
Mit der Armeebotschaft 2024 will Amherd nun das Ruder endgültig herumreissen. Erstmals wird National- und Ständerat die geplante strategische Ausrichtung der Armee über einen längeren Zeitraum von zwölf Jahren vorgelegt. «Mir war wichtig, dass das Parlament mitreden kann», betonte Amherd. «Mein Ziel ist es, die Verteidigungsfähigkeit wieder zu stärken. Mein Traum ist es, dass wir das möglichst rasch schaffen.»
Libyen-Krise dient als Szenario
Um die nötigen Fähigkeiten der Armee festzulegen, hat der Bundesrat verschiedene Bedrohungsszenarien geprüft. Entschieden hat er sich für jenes eines eskalierenden Streits mit einem anderen Staat. Um seine Interessen durchzusetzen, mache dieser erst wirtschaftlichen Druck, starte Cyberangriffe oder halte Schweizer willkürlich fest. Später droht er mit dem Einsatz von bewaffneten Drohnen oder Marschflugkörpern. Als Beispiel dient die Libyen-Krise von 2008 bis 2010. Es ist jenes Szenario, bei dem sich die Armee möglichst breit aufstellen muss. Heisst: Die Armee soll von allem ein bisschen können.
Um definieren zu können, was die Armee in den nächsten Jahren leisten können soll, wurden zehn Fähigkeitsbereiche definiert: von der Nachrichtenbeschaffung über den Luft- und Bodenkampf hin zu Cyber, Logistik und Sanität. Auf gutem Weg sieht sich der Bund etwa bei der Luftverteidigung. Zwar wäre die Durchhaltefähigkeit noch sehr begrenzt, auch wäre die Bekämpfung von Zielen am Boden derzeit nicht möglich. Mit dem Kauf des US-Kampfjets F-35 und dem neuen Luftverteidigungssystem Patriot soll es aber ab 2027 besser aussehen.
Es warten viele Baustellen
Den grössten Nachholbedarf erkennt der Bundesrat im Cyberbereich. Hier seien vorab Massnahmen zum Schutz der Informations- und Telekommunikationssysteme nötig. Die Armee soll die Widerstandsfähigkeit eigener Systeme und die Abwehr von Cyberangriffen auf militärische oder zivile Infrastrukturen verbessern. Geplant ist ein neues Rechenzentrum. Und vor allem: Nach mehreren Cyberattacken wird die Datensicherheit erhöht.
Handlungsbedarf besteht aber besonders bei den Bodentruppen. Mehrere Waffensysteme nähern sich ihrem Ablaufdatum. Wegen technischer Probleme wurde der Schützenpanzer M113 bereits vorläufig ausser Betrieb genommen. Und auch die Panzerhaubitzen M109 sind in wenigen Jahren ausser Gefecht. Es drohen gravierende Fähigkeitslücken. Hier plant die Armee in den 2030er-Jahren mit einem neuen Artilleriesystem. Daneben sollen die Leopard-Panzer aufgemotzt und für die Bodentruppen neue Lenkwaffen gekauft werden. Der Ukraine-Krieg habe gezeigt, dass solche zu den wichtigsten Verteidigungsmitteln gehören.
Um all diese Ziele zu erreichen, beantragt der Bundesrat in einem ersten Schritt einen Zahlungsrahmen von knapp 26 Milliarden Franken für die kommenden vier Jahre. Für Armeematerial und Immobilien will er in vier Jahren 4,9 Milliarden Franken zur Verfügung stellen, wie Verteidigungsministerin Amherd am Mittwoch bekannt gab.
«Völlig unrealistische Bedrohungsszenarien»
Erste Reaktionen auf Amherds Pläne bleiben verhalten: Für Stefan Holenstein (62) geht die Armeebotschaft zwar in die richtige Richtung. «Aber sie ist kein Grund zur Euphorie, denn die dramatischen Fähigkeitslücken bleiben», hält der Präsident des Verbands Militärischer Gesellschaften (VMG) fest.
FDP-Sicherheitspolitiker Josef Dittli (66) findet den langfristigen Ausblick zwar «schön und gut. Dennoch weiss auch damit niemand genau, wie die Armee dann aussehen soll und was sie kosten wird», sagt der Ständerat. Werden auch Infanteriebataillone endlich den Kampftruppen zugeordnet? Wie sieht die Luftwaffe aus? Da müssten Armeespitze und Verteidigungsministerin nachliefern.
Noch kritischer ist SP-Sicherheitspolitiker Fabian Molina (33): Durch «völlig unrealistische Bedrohungsszenarien» drohe die Übung aus dem Ruder zu laufen. «Diese Fähigkeitsplanung geht in die falsche Richtung und ist nicht finanzierbar.»