Auf einen Blick
Als Franz Perrez (57) im März 2023 seinen Job als Leiter der Direktion für Völkerrecht im Aussendepartement antrat, hatte er mit Putins Angriff auf die Ukraine und 120 weiteren bewaffneten Konflikten auf dem Erdball schon ziemlich viele Krisen an der Backe.
Dann kam der 7. Oktober: Mehrere Tausend Hamas-Terroristen überfielen Israel, töteten 1200 Menschen, nahmen 251 Geiseln und entfachten damit einen neuen Flächenbrand im Nahen Osten. Laut palästinensischen Angaben kamen durch Angriffe des israelischen Militärs IDF im Gazastreifen über 40'000 Menschen ums Leben; das IDF entgegnet, es habe 17'000 Hamas-Terroristen getötet. Das Völkerrecht steht immer mehr unter Druck – umso gefragter ist die humanitäre Schweiz. Umso gefragter ist Franz Perrez.
Vom Mr. Klima zum Mr. Völkerrecht
Zwölf Jahre leitete der Luzerner die Abteilung Internationales im Bundesamt für Umwelt (Bafu) und war Verhandlungsführer bei Weltklimakonferenzen von Cancún (Mexiko) bis Sharm el-Sheik (Ägypten). Statt Mr. Klima nun also Mr. Völkerrecht.
Einer, der sich vom einstigen Umweltbotschafter Perrez begeistert zeigt, ist SVP-Generalsekretär Henrique Schneider (47). Zwar hätte Schneider gerne eine strenge Auslegung der Schweizer Neutralität. Aber: «Franz macht als Völkerrechtler einen super Job.» Eine ehemalige EDA-Mitarbeiterin mit SP-Parteibuch sagt: «Perrez ist etwas vom Besten, was das EDA zu bieten hat.»
Perrez betont im Gespräch mit Blick, er könne als Völkerrechtler unabhängig arbeiten und erhalte von Bundesrat Ignazio Cassis (63) keine Weisungen, wie seine juristischen Analysen auszufallen hätten. Innenpolitisch ist die Neutralitätsinitiative Perrez’ heisses Eisen. Am Mittwoch trat der Völkerrechtsdirektor an der Seite von Cassis auf und erläuterte, warum ein starres Neutralitätskorsett der Schweiz schade. Und aussenpolitisch? Hier gibt die Schweizer Position im Nahostkonflikt zu reden.
Die USA versuchten, eine Konferenz in der Schweiz zu verhindern
Bereits Ende 2023 forderten die Palästinenser, die Schweiz solle als Hüterin der Genfer Konvention eine Konferenz einberufen, um Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht in Gaza zu diskutieren. Wie die «Huffington Post» enthüllte, versuchten die USA damals, die Schweiz davon abzubringen. Im Januar 2024 reiste Perrez nach Tel Aviv, Jerusalem und Ramallah und erklärte, dass es für eine solche Konferenz einen Auftrag der Uno-Generalversammlung brauche.
Als Depositarstaat der Genfer Konventionen ist die Schweiz bei diesem Thema besonders herausgefordert. «Wir sind eine Art Notarin, bei der die Genfer Konventionen hinterlegt sind», sagt Perrez. «Als Notarin sind wir unparteiisch. Als humanitäre Schweiz hingegen sind wir parteiisch und stehen auf der Seite des humanitären Völkerrechts.»
Im September gab die Uno-Vollversammlung der Schweiz offiziell den Auftrag, eine Konferenz zum Völkerrecht abzuhalten. Die Kritik aus Israel folgte postwendend. «Die Resolution zielt darauf ab, ein demokratisches Land zu bestrafen, das seine Bürger verteidigt», sagte die israelische Botschafterin in Bern, Ifat Reshef (56), zu Blick. Perrez entgegnet: «Israel wusste Bescheid. Ich fand diese Kritik ein bisschen erstaunlich. Wir haben einen klaren Auftrag der Uno-Generalversammlung. Es ist unsere Verpflichtung, dem nachzukommen. Es handelt sich nicht um eine politische Friedenskonferenz, sondern um eine Konferenz über die Umsetzung der Genfer Konventionen. Mit gegenseitigem Bashing kommen wir nicht weiter.»
Russland und USA höhlen Genfer Konvention aus
Perrez legt Wert darauf, dass es im Völkerrecht keinen Rückschritt geben darf. Das betreffe nicht nur den Nahostkonflikt, sondern sämtliche geopolitische Krisen: «Wir erleben im Sicherheitsrat, dass Formulierungen, die in der Genfer Konvention stehen, zum Teil keine Zustimmung mehr finden.» Nicht nur Russland, auch die USA wollten bisweilen hinter die Vereinbarung von 1949 zurück. Perrez bleibt dennoch optimistisch: «Wir gehen mit kleinen Schritten nach vorne.»
Aktuell bearbeitet Perrez weitere diplomatische Baustellen: So analysiert er für den Bundesrat, was das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag über die besetzten Gebiete für die Schweiz bedeutet. Der IGH hatte im Sommer festgestellt, dass Jerusalems Regierung auf palästinensischem Boden illegal handelt. Im Gutachten steht: «Israel muss sofort neue Siedleraktivitäten beenden, alle Siedlungen räumen und Ersatz für verursachte Schäden leisten.» Kein Land dürfe den Weiterbestand der illegalen Situation unterstützen.
Auch die Schweiz steht deshalb vor der Frage: Was tun? Konkret will Perrez nicht werden, um dem Bundesrat nicht vorwegzugreifen. Ein Beispiel, das bereits jetzt nach Schweizer Recht illegal ist: «Wein vom Westjordanland darf nicht als israelischer Wein verkauft werden.» Ob eine Professorin der ETH Zürich weiterhin mit der Ariel-Universität in den besetzten Gebieten kooperieren darf, ist fraglich. «Wir sind jetzt in der Schlussphase der Analyse. Am Ende entscheidet der Bundesrat, was politisch zu tun ist», sagt Perrez.
RTS verärgert das EDA
Es ist wohl seine zugängliche Art und seine Klarheit bei heiklen Fragen, warum Perrez von links bis rechts geschätzt wird – auch wenn der oberste Völkerrechtler der Schweiz es nicht allen recht machen kann. Aktuell zofft sich das EDA mit dem Westschweizer Fernsehen RTS. Die Romands hatten enthüllt: Das EDA war der Frage nachgegangen, ob eine Streichung der Schweizer UNRWA-Gelder ein «Verstoss gegen die Völkermordkonvention» sei und die Schweiz deshalb angeklagt werden könnte. Perrez zu Blick: «Wir haben diese Frage geprüft und sind zum Schluss gekommen: Wir leisten keine Beihilfe zu einem mutmasslichen Völkermord. Angeklagt werden kann man immer, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir verurteilt würden.» Das EDA kritisiert, RTS habe Perrez' Aussage im Tagesschau-Beitrag nicht wiedergegeben. Damit habe RTS gegen die journalistischen Grundregeln verstossen. RTS widerspricht: «Die im Beitrag dargelegten Fakten sind korrekt und werden nach unserem Verständnis vom EDA nicht bestritten.» Allerdings habe RTS später «aus freien Stücken» entschieden, «im Sinne der Transparenz das vollständige Interview mit Herrn Perrez auf RTSinfo.ch auszustrahlen». Laut dem EDA soll es demnächst ein klärendes Gespräch mit RTS geben.
Spätestens im März, wenn die Nahostkonferenz in Genf stattfindet, wird Perrez wieder Gegenwind entgegenwehen. Er kann damit umgehen.