Aussenminister Ignazio Cassis (63) brilliert – im Inneren des Landes. Nach den Unwettern im Misox und im Tessin trifft der Magistrat den richtigen Ton. Ruhig, einfühlsam und warmherzig spricht er den Betroffenen auf Italienisch Mut zu. Ihm gelingt eine Kommunikation der Hoffnung. Als Staatsmann und Seelsorger findet der gelernte Arzt Cassis hier seine wahre Berufung. Bundespräsidentin Viola Amherd (62) hingegen grinst am Ort der Verwüstung eher unglücklich in die Kameras.
Aber auch die Schweizer Aussenpolitik zeigt sich so mutig wie lange nicht mehr. «Wir sind selten so ein Risiko eingegangen, und ich bin stolz darauf, dass wir den Mut hatten, das zu machen», kommentierte Spitzendiplomat Gabriel Lüchinger (47) im SRF den Bürgenstock-Gipfel – Cassis, der Mutige: Allen Unkenrufen zum Trotz ist die Schweizer Diplomatie weltweit gefragt. Erst kürzlich baten Niger, Mexiko und Ecuador die Schweiz um ihre Guten Dienste. Und mit der Wahl von Alain Berset (52) zum Generalsekretär des Europarats war der Schweiz ein diplomatischer Erfolg beschieden.
Cassis hält am Afghanistan-Plan fest
An anderen Schauplätzen beweist Cassis ebenfalls Mut: Noch hält er an seinem Plan fest, dieses Jahr eine Aussenstelle der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) in Kabul (Afghanistan) zu eröffnen. Deutschland tut das Gegenteil: Diese Woche gab Berlin bekannt, das Büro der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Kabul bis 2025 aus Sicherheitsgründen zu schliessen – aber auch wegen der fehlenden Perspektive, unter dem Taliban-Regime etwas zu erreichen.
Doch Cassis’ Entschlossenheit auf dem internationalen Parkett entspricht nicht der Stimmung im EDA. Auch im siebten Jahr als Departementsvorsteher fremdelt Cassis mit seinen Diplomaten. Mehrere Emissäre berichten, Cassis sortiere Diplomaten in Vertraute und Nichtvertraute. Wenige Lieblinge rufe er an oder schicke ihnen persönliche Nachrichten, den meisten aber bliebe der Zugang zum Chef verwehrt. Erfahrenen Botschaftern auf wichtigen Posten werde beschieden, Cassis sei nicht zu sprechen – sie sollten mit seinen persönlichen Mitarbeitern vorliebnehmen.
«Die Arbeitskultur im EDA ist schlecht»
Nicht einmal beim Thema Gesundheit kann der Mediziner Cassis punkten. 2019 betrat er Neuland, indem er eine eigene Betriebsärztin einstellte. Nach sechs Monaten im Amt schrieb diese einen schonungslosen Bericht und reichte ihre Kündigung ein. Die Stelle wurde nie wieder besetzt.
Auf dem Papier steht es gut um die Gesundheit der Diplomaten. Obwohl sich EDA-Mitarbeitende häufig mit Versetzungen, Kriegen und Konflikten ausserhalb der Komfortzone bewegen, haben sie weniger Krankentage als der Durchschnitt der Bundesverwaltung. Pro Vollzeitstelle gab es dort letztes Jahr im Durchschnitt 7,6 Krankentage; EDA-Mitarbeiter wirken mit 5,6 Krankentagen deutlich gesünder.
Dennoch fiel das Urteil der Betriebsärztin vernichtend aus: «Die Arbeitskultur im EDA ist – aus medizinischer Sicht – schlecht», hält ihr Geheimbericht 2019 fest. Stress und Überlastung seien ein Tabuthema. Vorgesetzte heuchelten Verständnis, «während Mitarbeitende im Nachhinein als wenig belastbar klassifiziert werden und negative Konsequenzen erleben». Die Fälle würden «öffentlich diskutiert (Gossip-Kultur)», kritisiert die Medizinerin.
Statt Teamgeist herrschten im EDA «Günstlingswirtschaft und Intransparenz», beklagt ein Mitarbeiter: «Eigentliche Führung wird durch Machtzirkel ersetzt.» Ein anderer kritisiert: «Viele Vorgesetzte praktizieren eine Führungskultur des Wegschauens, Aussitzens und des Opportunismus, um Probleme zu kaschieren, die auf sie selbst als Vorgesetzte zurückfallen würden.»
Cassis wollte Witwer nicht kondolieren
Im Gazastreifen wurde nun ein aktueller Fall ruchbar, der viel über Cassis’ Verständnis von Fürsorgepflicht aussagt. Die Deza beschäftigt dort vier Lokalangestellte. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel vom 7. Oktober schlägt Israel zurück. Dabei verlor Deza-Mitarbeiter J. A.* seine Frau (43) sowie zwei Söhne im Alter von 18 und 8 Jahren. Ein weiterer Sohn und eine Tochter überlebten und kamen ins Spital.
Recherchen von Blick zeigten, dass Cassis J. A. zunächst nicht kondolieren wollte und erst auf Druck der Belegschaft in einem Brief schrieb: «Seien Sie sich unserer Unterstützung versichert.» Doch die Unterstützung des EDA war von kurzer Dauer. Ausgerechnet der Mitarbeiter, der familiär am schwersten getroffen wurde, findet keine Weiterbeschäftigung. Nach dem Medienbericht wurde gegen ihn zudem ein Maulkorb verhängt, heisst es aus der Deza.
«Klima der Angst» macht sich breit
Das EDA dementiert, dass J. A. für Äusserungen in den Medien bestraft worden sei: «Von einer Bestrafung kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Das EDA hat sich stark für die Lokalmitarbeitenden im Gaza eingesetzt. Es hat dafür gesorgt, dass Mitarbeitende Gaza verlassen konnten. Sie erhalten weiterhin ihren Lohn, und es wurde nach individuellen Lösungen gesucht. Dort, wo keine individuellen Lösungen gefunden werden konnten, erhalten die Mitarbeitenden eine zusätzliche Unterstützung im Umfang von sechs Monatslöhnen.»
Die Antwort des EDA empört Deza-Mitarbeiter: «Es ist ein Skandal, was Aussenminister Cassis und Deza-Direktorin Danzi unter Fürsorgepflicht verstehen. Sie lassen einen verdienten Mitarbeiter in einer dramatischen Situation fallen», sagt ein Deza-Mitarbeiter, der aufgrund des «Klimas der Angst» anonym bleiben will.
«Keine Übernahme von Verantwortung»
Das EDA betont, Cassis entscheide nicht selbst über Arbeitsverträge von Lokalmitarbeitenden. Im Gutachten der Betriebsärztin findet sich hierzu eine passende Parallele: «Fehlende Rückendeckung durch die Institution und keine Übernahme von Verantwortung.»
* Name bekannt