Nächste Woche präsentiert sich die Schweizer Entwicklungshilfe von ihrer Schokoladenseite. Aussenminister Ignazio Cassis (62) lädt zu einer Tagung nach Basel. Mit dabei beim «International Cooperation Forum»: Bundespräsidentin Viola Amherd (61) und die Präsidentin von Äthiopien. Die Tagung steht unter der Leitfrage: «Was ist Frieden?»
Frieden herrscht derzeit nicht einmal EDA-intern. Seit Jahren prallen zwischen dem EDA-Generalsekretariat und der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (Deza), die dem EDA angesiedelt ist, Kulturen aufeinander.
Die Kluft weitet sich
Zwar arbeiten der Departementsvorsteher und Deza-Chefin Particia Danzi (55) intensiv und professionell zusammen, wie es intern heisst. Aber die beiden Seiten haben sich entfremdet. Zum Sinnbild für diese Kluft wurde Cassis’ Besuch 2019 einer Glencore-Mine in Sambia. Der milliardenschwere Rohstoffkonzern ist für den FDP-Magistrat ein Beweis für die Schweizer Aussenwirtschaftspolitik. In der Deza hingegen sehen viele in Glencore einen Konzern, der Menschenrechte mit Füssen tritt.
Als Cassis 2021 bei einer Konferenz im Kursaal Bern für Kooperationen mit der Privatwirtschaft warb und sagte, Geld sei «nicht schmutzig», irritierte er viele Deza-Leute. Manche werfen ihm eine «neoliberale Wende» vor. Cassis interessiere sich mehr dafür, was die Taschenmesser von Victorinox und die Schweizergardisten im Rom zum Image der Schweiz beitragen.
Stimmung am Boden
Die Spannungen zwischen EDA-Spitze und Deza sind in Bundesbern schon länger bekannt. Jetzt ist die Stimmung am Tiefpunkt. Grund ist der Krieg in Nahost.
Vor sechs Monaten, am 7. Oktober, lancierte die Hamas eine bestialische Terrorattacke auf Israel. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (74) ordnete eine harte Gegenoffensive im Gazastreifen an. Bislang kamen rund 33'000 Palästinenserinnen und Palästinenser ums Leben. Noch immer hält die Hamas 130 israelische Geiseln gefangen.
Cassis kondolierte nicht
Am 15. Oktober schlugen israelische Raketen auch im Haus eines lokalen Deza-Mitarbeiters ein – in Chan Yunis im Süden des Gazastreifens. Bei dem Raketenangriff verlor J. A.* (44) seine Frau (43) sowie zwei Söhne im Alter von 18 und 8 Jahren. Ein weiterer Sohn und eine Tochter überlebten und kamen ins Spital.
J. A. arbeitet seit 2015 für die Deza. Trotzdem sah Cassis zunächst davon ab, dem trauernden Witwer und Familienvater zu kondolieren – worauf die Belegschaft mit Unmut reagierte. Ein erfahrener Deza-Mitarbeiter, der kurz vor der Pensionierung steht und nichts zu verlieren hat, koordinierte einen geharnischten Brief an den Aussenminister: «Alle Verbrechen an der Zivilbevölkerung sind zu verurteilen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.» Und weiter: «Wir bitten Sie, unserem Kollegen Ihr Beileid für die Tragödie, die er erlebt, auszusprechen und dieses Verbrechen bei den israelischen Behörden anzuzeigen.»
Erst nach dem Brandbrief kondolierte Cassis dem trauernden Mitarbeiter. In einem knappen Schreiben betonte der Aussenminister: «Seien Sie sich unserer Unterstützung versichert.»
Was damit gemeint ist, ist unklar. Bis Dezember musste J. A. im Gazastreifen ausharren und fürchtete um sein Leben. Erst dann gelang es dem EDA mit massivem Aufwand, J. A. und seine noch verbliebenen Kinder über Rafah nach Ägypten zu bringen und nach Abu Dhabi auszufliegen. «Ich bin Bundesrat Cassis und dem EDA für ihre Hilfe sehr dankbar», sagt J. A. im Gespräch mit Blick.
Lohnfortzahlung bis August
Aktuell lebt er mit seiner Tochter und seinem Sohn in einem Flüchtlingslager in Abu Dhabi. «Wir dürfen das Gelände nicht verlassen. Die Versorgung ist bestens, aber ich fühle mich lebendig begraben. Ich weiss nicht mehr weiter», sagt J. A. Die Deza habe ihm versichert, bis August seinen Lohn zu zahlen. Und danach? «Ich möchte weiterhin für die Deza tätig sein», sagt J. A. Am liebsten würde er in die Schweiz auswandern, allerdings habe er keine Chancen auf ein Schengen-Visum. Das EDA teilt mit, es stehe mit J. A. in Kontakt: «Im Moment können keine weiteren Angaben gemacht werden.»
Der Brief der Deza-Mitarbeiter ist nicht das einzige Schreiben, das Cassis erreichte. Blick liegt ein Papier von Vertretern des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SKH) vor – also jener Milizvereinigung, die Ingenieure, Agrarexperten und Friedensforscher ins Ausland schickt. Das SKH forderte von Cassis, «den Schutz der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt» der Arbeit zu stellen, denn: «Die Schweiz ist der Geburtsort der Genfer Konventionen.» Ursprünglich sollte der Brief das SKH-Logo tragen. Doch das EDA übte Druck aus, dass am Ende nur noch von «engagierten BürgerInnen» und nicht mehr vom SKH die Rede war. Das offizielle Logo musste verschwinden.
Es rumort in der Deza. In einer Nachricht, die Blick vorliegt, schreibt ein Mitarbeiter über ein Projekt: «Das politische Backing wäre nicht garantiert. Bei Engagements zum Palästina-Konflikt muss man jeden Schritt und jedes Wort tausend Mal abwägen.»
Viele Partnerorganisationen gerieten unter Generalverdacht
Viele Deza-Mitarbeiter werfen ihrem Bundesrat eine «Übersprunghandlung» nach dem 7. Oktober vor. Cassis wollte wissen, ob Steuergelder in die Hände der Hamas fliessen und stellte alle Partnerorganisationen unter Generalverdacht. Später gab Cassis bekannt, dass die Schweiz nicht mehr mit der NGO Al-Shabaka/ The Palestinian Policy Network zusammenarbeite. 2023 waren für die NGO im Deza-Haushalt 68'000 Franken budgetiert. Die Begründung für das Ende: Das EDA habe «nicht konformes Verhalten» in der Kommunikation nach dem 7. Oktober festgestellt.
Dabei zeigen Recherchen von RTS: Bereits am 2. Oktober, also vor dem Angriff der Hamas, hatte das EDA aus Budgetgründen die Zusammenarbeit mit Al-Shabaka beendet.
Finanzsorgen machen die Situation nicht einfacher
Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit in der Deza sind Finanzsorgen. Im Bundeshaushalt klafft ein grosses Defizit. Bislang lehnte es das Parlament ab, die Milliardenzahlungen an die Ukraine aus einem Sonderhaushalt zu zahlen. Das Geld soll aus dem regulären Haushalt gestemmt werden. Konkret würde das bedeuten: weniger Geld für Afrika, mehr für die Ukraine. Insgesamt hat die Schweiz der Ukraine für den Wiederaufbau sechs Milliarden Franken versprochen. Der Bundeshaushalt soll jährlich mit rund 400 Millionen Franken belastet werden.
In der Deza und bei NGOs sorgen die drastischen Kürzungen für Ärger, denn es geht um die Ärmsten der Armen. «Die Deza fühlt sich von Bundesrat Cassis in den harten finanzpolitischen Auseinandersetzungen nicht genügend unterstützt», sagt ein erfahrener Diplomat. Ein Insider meint: «Der Chef der Armee führt sich wie ein achter Bundesrat auf und sagt dem Parlament, was die Armee braucht. Wenn die Deza-Direktorin das machen würde, wäre sie ihren Job los.»
Cassis setzt sich nicht für einen höheren Etat ein
Dabei sieht es das Volk anders. Laut einer neuen Umfrage der ETH Zürich wollen die Menschen in der Schweiz lieber Geld in die Entwicklungshilfe als in die Armee stecken.
Doch Cassis macht sich diese Stimmung nicht zunutze. Dass er nicht für einen höheren Etat kämpft, frustriert viele in der Deza. Mehr noch: Nach Weihnachten forderte Cassis den Kopf von Andrea Studer (50), der Stellvertreterin von Direktorin Danzi. Studer leitete die aktuell wichtigste Deza-Abteilung und war sowohl für die Ukraine als auch für den Nahen Osten zuständig. Dem Vernehmen nach wünschte sich Cassis auf dieser Schlüsselposition einen Vertrauten.
Weder Cassis noch Deza-Direktorin äussern sich
Der Aussenminister hoffte, mit einer Versetzung die Personalie Studer still und leise zu lösen. Doch Studer weigerte sich. Da gegen sie nichts vorlag, musste ihr Cassis zusätzlich zur Kündigungsfrist Ende August eine Abfindung ausbezahlen. Wie Blick weiss, kostet der Abgang in der Lohnklasse 32 den Steuerzahler über 250'000 Franken.
Auf Anfrage wollen sich weder Bundesrat Cassis noch Deza-Direktorin Danzi äussern. Das EDA teilt mit: «Die Deza-Direktorin gehört dem Ausschuss der Departementsleitung an, was ihre Bedeutung für den Departementschef unterstreicht.»
* Name bekannt