Humanitäres Völkerrecht, Menschenrechte, Friedensförderung sind die Prinzipien der Schweizer Aussenpolitik. Auf dem Papier. Im politischen Alltag zeigt sich Aussenminister Ignazio Cassis (62) eher flexibel. Dies zeigt vor allem sein Umgang mit dem Tod des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny, der mit 47 Jahren in einem russischen Straflager ums Leben kam.
Nach offizieller Darstellung war Nawalny bei einem Rundgang auf dem Gefängnishof zusammengebrochen, Wiederbelebungsversuche seien erfolglos geblieben. Kritiker des Putin-Regimes gehen davon aus, dass der Präsident seinen grössten Widersacher eiskalt ermorden liess. Auch Nawalnys Ehefrau spricht von Mord.
Schweizer Botschafterin nicht an Beerdigung
Die internationale Staatengemeinschaft reagierte nicht minder empört. «Die langsame Tötung von Alexei Nawalny durch das Kreml-Regime ist eine deutliche Erinnerung daran, dass es menschliches Leben völlig missachtet», teilte die EU mit. Ähnliche Reaktionen kamen aus allen westlichen Hauptstädten.
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Und die offizielle Schweiz? Aussenminister Cassis würdigte Nawalny als «beispielhaften Verfechter der Demokratie und der Grundrechte». Das Land sei bestürzt über seinen Tod und erwarte, dass eine Untersuchung über die Todesursachen des Oppositionellen eingeleitet werde. Dabei liess es Cassis bewenden.
Anders als westliche Staaten nahm die Schweizer Botschafterin in Moskau, Krystyna Marty Lang (58), nicht an Nawalnys Begräbnis teil. «Verschiedene Überlegungen – unter anderem die Tatsache, dass keine Einladung vorlag – haben die Schweizer Botschaft in Moskau dazu veranlasst, nicht an der Beerdigung von Alexei Nawalny teilzunehmen», teilt das EDA mit.
Für EDA zu scharf formuliert
Doch auch in Genf glänzte das EDA mit Abwesenheit. Kurz nach Nawalnys Tod diskutierte der Uno-Menschenrechtsrat darüber. 43 Nationen – darunter die USA und die EU-Staaten – forderten eine unabhängige internationale Untersuchung. Auch die Efta-Länder Island, Liechtenstein und Norwegen unterzeichneten die von Luxemburg eingebrachte Resolution. Das einzige Efta-Mitglied, das ausscherte, war die Schweiz.
«Nach breiter interner Konsultation hat sich das EDA entschieden, sich der entsprechenden gemeinsamen Erklärung nicht anzuschliessen», teilt das EDA mit. Die Schweiz habe jedoch in der OSZE, im Europarat und auch im Uno-Menschenrechtsrat klar Stellung zu Nawalnys Tod bezogen: «In ihren Wortmeldungen hat sie die russischen Behörden zu einer unabhängigen, glaubwürdigen und transparenten Untersuchung aufgerufen.»
Nun zeigen Dokumente, die SonntagsBlick mithilfe des Öffentlichkeitsgesetzes einsehen konnte: Bern ignorierte die Empfehlungen der Schweizer Vertretung beim Uno-Menschenrechtsrat in Genf. Das Aussendepartement EDA erachtete den Resolutionstext für zu scharf formuliert. «Wir sind empört über den Tod des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny, für den letztlich Präsident Putin und die russischen Behörden die Verantwortung tragen», hiess es in der Resolution.
«Tonfall passt nicht zur Schweiz»
Das EDA jedoch wollte Putin nicht beim Namen nennen: «Wir könnten mit der Formulierung ‹russische Behörden› leben», heisst es in einem internen Papier. Der Tonfall passe nicht zur Schweiz und die Resolution enthalte «Sätze/Passagen, die für uns problematisch sind».
Wie wenig Nawalnys Schicksal die offizielle Schweiz bewegte, zeigte sich bereits zuvor in der Frage der Sanktionen.
Im August, als der einflussreichste russische Putin-Gegner noch lebte, wollte sich der Bundesrat den EU-Sanktionen gegen Moskau nicht anschliessen: «Nach einer Güterabwägung gestützt auf verschiedene aussenpolitische und rechtliche Kriterien entschloss sich der Bundesrat zum Verzicht auf die Übernahme dieser Sanktionen», hiess es damals.
Letzte Woche verschärfte die EU wegen Nawalnys Tod ihre Russland-Sanktionen. Auch denen wird die Schweiz sich wahrscheinlich nicht anschliessen.