Gulnaz Partschefeld (42) hat bis 2006 als Nachrichtensprecherin für die Allrussische staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft gearbeitet. Die Russin kennt Wladimir Putins (70) Propaganda-Apparat von innen. Und sie weiss, wie gefährlich die Moskauer Lügenmaschinerie ist. Seit 2008 lebt sie in der Schweiz und verfolgt als Lehrbeauftragte für russische Kulturgeschichte an der Universität St. Gallen besorgt mit, was in ihrer ehemaligen Heimat passiert.
Frau Partschefeld, Jewgeni Prigoschin ist tot, Alexei Nawalny für Jahrzehnte weggesperrt. Gibt es noch Putin-Kritiker in Russland?
Gulnaz Partschefeld: Nein. Und niemand bezweifelt, dass Putin Prigoschin beseitigen liess.
Die Theorie, dass Prigoschin gar nicht tot ist, hält sich hartnäckig.
Das halte ich für ausgeschlossen. Der Wagner-Chef hatte viele Sympathisanten und besass kompromittierende Daten über Putin. Er war eine grosse Gefahr für Putin. Der Fall zeigt: Putins Machtapparat scheut nicht mehr davor zurück, sich als kriminelle Bande zu erkennen zu geben, die jeden tötet, der sie des Lügens bezichtigt.
Glauben die Menschen Putins Lügen wirklich, etwa jene über die Nazi-Regierung in Kiew?
Putins Propaganda hat ihr Hauptziel erreicht: Sie hat das russische Volk zu einer extrem passiven Gesellschaft erzogen. Das zeigt sich selbst in der Einstellung der Bevölkerung zum Krieg. Man lebt damit, auch wenn das jetzt mit all den Drohnenangriffen vielleicht nicht mehr ganz so angenehm ist.
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Die Russen, ein gelähmtes Volk?
Sehr viele Russen glauben, sie könnten sowieso nichts beeinflussen, es sei eh schon alles entschieden. Da lohne es sich gar nicht mehr, sich selbst Gedanken zu machen. Viele Menschen fühlen sich zudem von der komplizierten Weltlage überfordert. Der Kreml nutzt das bewusst und stiftet zusätzliche Verwirrung mit seiner Propaganda. Es führt dazu, dass ein Grossteil der Leute sagt: «Ich verstehe überhaupt nichts mehr …»
Und darum sind die Leute ganz froh, dass das Regime für sie denkt und entscheidet?
Genau. Die Russen verirren sich im Propaganda-Dschungel des Kremls. Sie befürchten, dass Russland ohne starken Führer auseinanderfällt und die westlichen Mächte und China sich die einzelnen Gebiete schnappen. Diese Angst ist grösser als die Unzufriedenheit mit Putins Kurs.
Hunderttausende sind für ihn in den Krieg gezogen. Putin ist offenbar sehr überzeugend.
Nein. Viele dieser Männer praktizieren eine Art bezahlten Patriotismus. Als Soldat kann man sehr viel mehr verdienen als in den meisten Jobs ausserhalb der Grossstädte. Und viele Russen, die im Hinterland ohne grosse Perspektive leben, sehen im Kriegsdienst eine Möglichkeit, ihrem Leben einen Sinn zu geben, sich als Held zu inszenieren.
Und dafür nehmen sie das grosse Risiko, zu sterben, auf sich?
Im Krieg zu fallen, ist ein viel ehrenwerterer Tod, als zu Hause an einer Krankheit oder durch Alkohol zu sterben. Diese Überlegungen spielen perverserweise eine grosse Rolle im Denken solcher Menschen. Putin selbst hat bei Treffen mit Müttern von getöteten Soldaten immer wieder betont, wie ehrenvoll es doch sei, als junger Mensch den Heldentod zu sterben.
Damit kann man trauernde Mütter doch nicht beruhigen.
Stellen Sie sich vor, Ihr Sohn stirbt in der Ukraine. Da werden Sie niemals zugeben wollen, dass er für eine verbrecherische Mission gestorben ist. Sie werden umso fester daran glauben wollen, dass er als Held gefallen ist. Paradoxerweise stärkt der Tod dieser Männer den Patriotismus der Hinterbliebenen sogar.
Könnte Putin seinem Volk auch eine militärische Niederlage in der Ukraine erklären?
Nein, er ist ein Gefangener seiner eigenen Märchen über die übermächtige russische Armee. Verliert er in der Ukraine, fällt seine Macht. In den Augen rechter Kreise in Russland ist er jetzt schon ein Verlierer.
Gulnaz Partschefeld (42) ist in der westrussischen Stadt Pensa aufgewachsen und hat eine Ausbildung zur Deutsch- und Englischlehrerin absolviert. Die Tochter kasachischer Eltern arbeitete ab 2002 für verschiedene Radiosender und ab 2006 für die Allrussische staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft als Moderatorin. 2008 ist sie in die Schweiz gezogen und arbeitet heute als Lehrbeauftragte für russische Kulturgeschichte an der Uni St. Gallen.
Gulnaz Partschefeld (42) ist in der westrussischen Stadt Pensa aufgewachsen und hat eine Ausbildung zur Deutsch- und Englischlehrerin absolviert. Die Tochter kasachischer Eltern arbeitete ab 2002 für verschiedene Radiosender und ab 2006 für die Allrussische staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft als Moderatorin. 2008 ist sie in die Schweiz gezogen und arbeitet heute als Lehrbeauftragte für russische Kulturgeschichte an der Uni St. Gallen.
Gibt es eine Putin-Formel – ein Rezept, nach dem seine Propaganda funktioniert?
Putin hat keinen Pfiff. Seine Ansprachen wiederholen immer wieder dieselben Narrative, zeugen von der Unkenntnis der Lage seiner eigenen Armee, sie kommen immer verzögert. Er ist weder kreativ noch emotional. Auch seine Anhänger reagieren oft enttäuscht auf die länglichen, floskelreichen Vorträge. Das ist nicht zu vergleichen mit Wolodimir Selenski, der für seine Leute seit Kriegsbeginn jeden Abend eine aktuelle, pointierte Botschaft aufzeichnet. Putin könnte sehr viel von Selenski lernen.
Sie haben als Moderatorin für einen russischen Staatssender gearbeitet, waren Teil des Propaganda-Apparats. Wie funktioniert dieser Apparat ganz konkret?
In der Sowjetunion hatten die Medien den Auftrag, die Meinung des Volkes mit Denkbefehlen brachial zurechtzubiegen. Das kann sich das moderne Russland nicht mehr leisten. Der Kreml weiss, dass man unterschiedliche Gruppen unterschiedlich abholen muss. Die Propaganda ist viel filigraner und vielfältiger als früher. Es gibt Tausende auf die Bedürfnisse verschiedener Gruppen zugeschnittene Geschichten, von denen sich jeder eine auswählen kann. Letztlich dienen sie immer dem Hauptnarrativ: Der Westen ist böse und will uns zerstören.
Erhalten Moderatorinnen und Journalisten vom Kreml formulierte Botschaften, die sie verbreiten müssen?
Die Chefredaktionen staatlicher Medien werden zu regelmässigen Briefings eingeladen, wo man ihnen erläutert, was sie etwa über den Krieg in der Ukraine erzählen müssen. Diese Instruktionen gibt man an die Redaktionen und Abteilungen weiter. Die Moderatorinnen sind sehr beschränkt darin, was und wie sie berichten können. So funktioniert es in den staatlichen Medien. Und ganz ähnlich läuft das auch auf den neuen Medienkanälen, etwa dem in Russland weitverbreiteten Nachrichtendienst Telegram.
Sind auch Kinder Opfer der Kreml-Propaganda?
Natürlich schnappt sich die Propaganda auch die Kinder. Am Freitag startete in Russland das neue Schuljahr. An einer Schule in der Stadt Nischni Nowgorod sollten die Kinder in Militäruniform erscheinen. Die Eltern haben sich zum Glück dagegen gewehrt. Aber das Fach «Militärische Erstausbildung» kommt wieder ins obligatorische Schulprogramm. Und: Schüler werden Geschichte mit einem neuen Lehrbuch lernen, in dem der Krieg gegen die Ukraine als legitimer Verteidigungsakt dargestellt wird. Im Buch geht es immer um den Widerstand zwischen dem «einzigartigen» Russland und dem «bösen Westen».
Was können Eltern dagegen tun?
Mir fällt auf, dass derzeit sehr viele Eltern ihre Kinder zu Hause unterrichten, was in Russland noch immer erlaubt ist. In manchen Städten verdoppelte sich in den letzten zwei Jahren die Anzahl der Kinder mit Heimunterricht. Diese Eltern wollen ihre Kinder vor dieser Propaganda schützen.
Was passiert mit den Tausenden Kindern, die von russischen Soldaten aus der Ukraine entführt wurden?
Sie werden in patriotischen Lagern umerzogen. Diese Kinder sollen entfremdet werden und nicht mehr integrierbar sein in der Ukraine, egal wie dieser Krieg ausgeht.
Die russische Propaganda wirkt bis in die Schweiz. Putin hat auch hierzulande immer noch Bewunderer – trotz allem. Wie erklären Sie sich das?
Russland-Liebe und Putin-Bewunderung sind oft bei Menschen anzutreffen, die Russland nicht wirklich kennen. Ihre Bewunderung basiert auf falschen Fakten, die etwa vom Propaganda-Sender Russia Today hierzulande verbreitet werden.
Russia Today ist in der EU längst verboten, in der Schweiz nicht. Der Bundesrat sagt, es sei wirksamer, der Propaganda mit Fakten zu begegnen, statt sie zu verbieten.
Ich verstehe das nicht. Russia Today ist gefährlich. Der Sender verbreitet gut verpackte Lügen direkt aus dem Kreml. Dieses Treiben hier zuzulassen, grenzt für mich an Naivität.
Sehen Sie noch andere Methoden, mit denen Russland in der Schweiz Einfluss zu nehmen versucht?
Auffällig finde ich, wie unverhältnismässig gross der Personalbestand der russischen Botschaft ist. Da stellt sich die Frage, wozu dieses ganze Personal da ist.
Es sind kaum alle davon Köchinnen und Gärtner.
Ich gehe nicht davon aus. Das sind entweder Lobbyisten oder Spione.
Was antworten Sie Menschen, die sagen, man müsse auf Moskaus Argumente hören und auch die russische Seite verstehen?
Die sogenannten Putin-Versteher verbreiten komplett falsche Fakten. Das hat nichts mit Meinungsvielfalt zu tun. Ein Beispiel: Die Mär von der aggressiven Nato, die sich immer weiter nach Osten ausbreitet, hält sich hartnäckig. Dabei ist es nicht die Nato, die irgendwelche Länder zum Beitritt zwingt. Es sind freie Staaten, die aus eigenem Antrieb und aus den eigenen Erfahrungen mit dem sowjetischen beziehungsweise russischen Nachbarn gerne der Nato beitreten möchten. Dass auch kleine Länder respektiert werden müssen, sollte gerade in der Schweiz sofort jedem einleuchten. Wir werden ja auch nicht einfach zwischen Deutschland und Frankreich aufgeteilt, sondern können selber bestimmen, welche Beziehungen wir zu unseren Nachbarn unterhalten wollen.
Sie treten in der Schweiz immer wieder als Putin-Kritikerin in Erscheinung. Haben Sie keine Angst, dass das russische Regime Sie zum Verstummen bringen will?
Nein. Dafür bin ich wahrscheinlich zu unwichtig. Ich will das blanke Unrecht, das Russland in der Ukraine veranstaltet, aber keinesfalls einfach aussitzen.