«Er hat sich bei seiner Rückkehr nach Moskau verschätzt»
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Russland-Experte Ulrich Schmid:«Er hat sich bei seiner Rückkehr nach Moskau verschätzt»

Alexei Nawalny (†47) und Julia Nawalnaja
Sie waren für Putin das gefährlichste Ehepaar

Mit jedem weiteren Tag, an dem ihr Mann unter Wladimir Putins Repression litt, wurde Julia Nawalnaja stärker. Über die Begegnung mit einer Ausnahmefrau.
Publiziert: 18.02.2024 um 01:23 Uhr
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Aktualisiert: 19.02.2024 um 21:56 Uhr
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Ein undatiertes Bild aus glücklichen Tagen: Alexei Nawalny und Julia Nawalnaja.
Foto: EPA
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Es war ein heisser Sommertag im vergangenen August. Gnädig kühler Weisswein floss zu angeregten Gesprächen im Garten des Hotels Castello del Sole in Ascona TI. Die Mächtigen und Wortmächtigen, die sich hier versammelt hatten, wurden wohl umsorgt, fernab von den Krisen und Kriegen der Welt.

SonntagsBlick-Kolumnist Frank A. Meyer (80) hatte eine illustre Gästeschar aus Kultur, Wirtschaft und Politik zum legendenumwobenen «Dîner républicain» geladen.

Plötzlich schritt diese auffällig unauffällige blonde Frau über den Rasen, begleitet von ihrem Sohn Zakhar und einer Entourage aus Sicherheitsleuten.

Sie erschien von dezenter Eleganz; die unglaubliche Stärke, die sie vor der ganzen Welt an den Tag legt, war ihr nicht auf den ersten Blick anzusehen. Nur ihre nüchterne, entschlossen wirkende Zielstrebigkeit, die man als Härte auslegen könnte, liess erahnen, was diese Frau schon erlebt, ausgehalten, durchgemacht hatte.

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Als Nawalny Putin vorgeführt hatte

Julia Nawalnaja (47) war ins Tessin gereist, um ihren Mann Alexei Nawalny zu vertreten. Frank A. Meyer verlieh ihm den «Europapreis für politische Kultur» der Hans Ringier Stiftung. Der russische Oppositionelle stehe für die «Kraft von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat», formulierte es der Journalist. Vor Nawalnys Unbeugsamkeit könne sich «Europa nur verneigen».
Der Dissident, Aktivist und Politiker sass an jenem Tag bereits zwei Jahre in einer von Putins brutalen Strafanstalten.

Nawalny hatte das Gefährlichste getan, was man in Russland tun kann – er stellte sich offen gegen Präsident Wladimir Putin (71). Im Reich des ehemaligen KGB-Agenten ist Mord ein politisches Mittel. 2020 überlebte Nawalny einen Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok. Das ist ein bewährter Kampfstoff des russischen Geheimdienstes; Nawalny und seine Organisation schlugen zurück; es gelang ihnen mit List, einen seiner Angreifer am Telefon zu überführen und dazu zu bringen, den Mordversuch zuzugeben.
Der Effekt war enorm, die Wut im Kreml ebenso. Nawalny avancierte zu Putins Angstgegner.

Mutter und Sohn – ein eingespieltes Team

Natürlich nahm ich im Tessin die Gelegenheit wahr und sprach Julia Nawalnaja an – wie es ihr und ihrem Sohn jetzt gehe, was sie von ihrem Mann wisse. Erst im Gespräch offenbarte sich, wie misstrauisch und vorsichtig diese Frau sein muss, weltweit und jederzeit der Gefahr ausgesetzt, den Schergen des russischen Raubstaates zum Opfer zu fallen. Ganz zurückhaltend lächelnd und zaghaft antwortend, suchte sie immer wieder den Blickkontakt mit ihrem gross gewachsenen, blonden Sohn. Er und seine Mutter, so viel war sofort zu erkennen, bilden ein eingespieltes Team, eine verschworene Schicksalsgemeinschaft, miteinander verbunden im permanenten Ausnahmezustand.

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Julia Nawalnaja war am besagten Sommertag als eine Frau ins Tessin gereist, die bereits einen Giftanschlag auf ihren Mann mitgemacht hatte, die ihm Minuten, Stunden, Tage beistand und der Ungewissheit harrte, ob ihr Gatte, den die studierte Ökonomin im Jahr 2000 geheiratet hatte, das alles überleben werde. Sie arbeitete einst als Sekretärin ihres Mannes und avancierte an seiner Seite zur bekanntesten Frau der russischen Opposition. Womit sie auf Putins Feindesliste ziemlich weit nach oben gewandert ist.

Die Geschichte zwischen Nawalny und Putin, dazu gehört Nawalnys berühmte Rede 2011, als er die Partei Putins als «Partei der Verbrecher und Gauner» betitelte, die Enthüllungen über Putins tatsächlichen Reichtum, den er vor der einfachen Bevölkerung geheim hält, die vielen Gerichtsprozesse und die Aggression des russischen Machtapparats – Nawalnaja hat diese Geschichte nicht nur miterlebt, sie ist Teil davon.

Die unvergessenen Worte ihres Mannes nach seiner Verurteilung 2021, wonach er Putin «sicher nicht das Geschenk macht, ins Exil zu gehen», sind auch ihre Worte.

Nawalnys Martin-Luther-Moment

Der Verbleib in Russland war so etwas wie Nawalnys Martin-Luther-Moment – «Hier stehe ich, ich kann nicht anders», sagte der Reformator einst, wohl wissend, im Dienst der Sache sein Leben aufs Spiel zu setzen. Nawalnys Sache war ein freies, demokratisches Russland.

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«Es gibt ein Russland jenseits von Putin.»
Joachim Gauck, ehemaliger deutscher Bundespräsident
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In Ascona war der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck (84) der Lobredner bei der Preisverleihung, jenes Staatsoberhaupt, das auf deutschem Boden zwei Diktaturen erlebte und vielleicht deshalb die Dinge so treffend in Worte fassen kann. «Wir Europäer bewundern nicht nur seine Haltung und seinen Mut», so der prominente Gast, «Nawalny ermöglicht uns auch, daran zu glauben, dass es ein anderes Russland gibt, ein Russland jenseits des verbrecherischen Systems Putin.»

Nawalnys Gang hinter Gitter 2021 war der Startschuss zu einem makabren Spektakel Putins, der einen Gegner vor den Augen der Welt langsam zerstören liess. Schrittweise wurden die Haftbedingungen verschärft, im Dezember wurde Nawalny in eine Strafanstalt am Polarkreis verlegt, wie es schon die Zaren mit politischen Häftlingen zu tun pflegten.

«Kälteschock der Wirklichkeit»

Die Situation des weltbekannten Insassen verschlechterte sich; Putin trieb zeitgleich den blutigen, gnadenlosen Angriffskrieg gegen die Ukraine voran, flankiert von seinen Claqueuren im Westen, auch in der Schweiz, die den Schlächter des 21. Jahrhunderts in der einschlägigen Presse barmherzig zum «Missverstandenen» verklären und die Frage stellen, ob Putin «gar der Kälteschock der Wirklichkeit» sei, «den der Woke-Westen so dringend» brauche.

Der Kreml-Chef weiss seine Anhängerschaft in den Zentren der freien Demokratien für sich zu nutzen. Letzte Woche gewährte er Donald Trumps Lieblingsjournalist Tucker Carlson (54) ein zweistündiges Interview in der Pose des historisch reflektierenden Staatsmannes, smart lächelnd und Witze reissend.

Nur eine Woche später, am Freitag, ist mit Nawalny Putins lästigster innenpolitischer Gegenspieler im sibirischen Lager «Polarwolf» verstorben; wer glaubt an Zufälle?

Blutgerinnsel – eine Standardbegründung

Ein «Blutgerinnsel» wird als offizielle Todesursache angegeben – laut Menschenrechtsaktivisten die Standardbegründung für herbeigeführte Todesfälle politischer Gefangener.

Aber auch der Tod, die endgültige Beseitigung ihres Ehemannes durch das russische Regime, hat Julia Nawalnaja nicht gebrochen. Noch in der Ungewissheit über den Verbleib ihres Gatten stand sie am Freitag an der Münchner Sicherheitskonferenz auf die Bühne und gab sich, gegen die Tränen kämpfend, entschlossen: «Ich will, dass Putin und sein Umfeld wissen, dass sie für alles, was sie unserem Land, unserer Familie angetan haben, Rechenschaft ablegen werden.»

Nawalnajas Mission wird noch wichtiger

An jenem Augusttag im Tessin sass ich im Bus, der uns zu einem Konzert in der Kirche Santa Maria della Misericordia fuhr, direkt hinter Nawalnys Frau und Sohn. Wohin es sie nach dem Schweiz-Besuch ziehen werde, wollte ich von ihr wissen. Und ob sie zuversichtlich sei, ihren Mann bald wiederzusehen.

Ihren nächsten Reiseort dürfe sie nicht verraten, antwortete sie charmant. Und ob sie Alexei Nawalny bald wiedersehen könne? «Ich weiss es nicht», sagte sie milde lächelnd, «aber wir arbeiten daran».

Diesen Freitag kam die Todesmeldung. Nawalny wurde 47 Jahre alt. Julia Nawalnajas Mission ist damit nicht zu Ende, im Gegenteil – sie wird noch wichtiger.

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