Ignazio Cassis (62) hat gerade einen Lauf. Das kommt für viele unerwartet. Freunde wie Gegner werfen dem EDA-Vorsteher seinen Schlingerkurs vor, im Bundeshaus gilt der Tessiner als mutlos, im Vorfeld der Bundesratswahlen war er plötzlich der Wackelkandidat.
Derzeit jedoch präsentiert sich der FDP-Magistrat auffällig pannenfrei. International sammelt er Unterstützer für einen Friedensgipfel mit der Ukraine. Und jetzt die Vorwärtsstrategie beim EU-Dossier: Am Freitag präsentierte Cassis das Verhandlungsmandat. Fast drei Jahre nach dem Scheitern des Rahmenabkommens nimmt der Bundesrat einen neuen Anlauf im Verhältnis mit Brüssel.
Viel Zeit bleibt dem neuen Unterhändler Patric Franzen (54) nicht – am 18. März reist Bundespräsidentin Viola Amherd (61) mit einer Delegation nach Brüssel und leitet die Verhandlungsrunde ein.
Bereits am 9. Juni sind Europawahlen. Danach wird die Gegenseite mehr mit sich selbst beschäftigt sein, mit neuen Leuten auf wichtigen Posten. Für ein tragfähiges Verhandlungsergebnis bleiben mithin nicht einmal drei Monate. Dabei wird das Resultat noch die Hürde beim Stimmvolk nehmen müssen: Dieser Urnengang ist nicht nur schicksalhaft für die Nation, sondern auch für die Politkarriere von Ignazio Cassis.
Basecap mit EU-Sternenbanner
Der Aussenminister setzt auf eine neue Transparenz: Alles, was der Bundesrat mit Brüssel besprechen will, ist auf sieben Seiten nachzulesen. Weder die SVP noch die Gewerkschaften sollen später behaupten können, die Landesregierung betreibe mit der EU ein doppeltes Spiel.
Einen weiteren Trumpf hat Cassis im Bundesratszimmer: Mit der Wahl von Beat Jans (59) ist das Siebnergremium deutlich europafreundlicher aufgestellt. Vorgänger Alain Berset (51) gehörte mit Ex-SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga (63) zu den EU-Bremsern, der Basler Jans hingegen gilt als EU-Turbo. Bei der Verabschiedung Bersets durch die SP in Genf trug Jans eine Basecap mit EU-Sternenbanner – ein Geschenk für seinen Wahlkampf im Europarat, aber auch ein klares Statement, dass nun die Stunde der EU-Freunde schlägt.
Cassis’ wichtigste Verbündete aber ist Viola Amherd. Die VBS-Chefin steht stark unter Druck. Kaum eine Woche vergeht ohne Skandale. Erst am Freitag enthüllte SRF weitere Ungereimtheiten bei den Armeefinanzen. Damit ihr Präsidialjahr nicht nur aus Pleiten, Pech und Panzern besteht, braucht Amherd dringend Erfolge. Ein Durchbruch in Brüssel käme da wie gerufen.
Als Walliserin weiss sie, wie eng die Schweiz und die EU miteinander verbunden sind: Ihr Kanton grenzt an Italien und Frankreich. Die mächtigste Frau im Bundesrat indes, Finanzministerin Karin Keller-Sutter (60), hält sich dieser Tage auffallend bedeckt.
Brüssel ist am Zug
Einerseits muss sie ihren Parteifreund Cassis unterstützen, andererseits hat die FDP in der Europafrage noch keine klare Haltung gefunden. Beim Kampf gegen das Rahmenabkommen hatte sie damals im Bundesrat eine Schlüsselrolle.
Nur in der SVP herrscht Klarheit: Die Bundesräte Albert Rösti (56) und Guy Parmelin (64) sind auf Parteilinie und lehnen die Verhandlungen mit der EU ab.
Auch die Gewerkschaften stellen sich quer. Mit einem Unterschied: SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard (55) versteht sich selber nicht als Blockierer, sondern als Mehrheitsbeschaffer mit proeuropäischer DNA. Kämen Cassis und seine Unterhändler den Arbeitnehmern substanziell entgegen, hätten sie die Linke auf ihrer Seite. Derzeit jedoch scheint dies angesichts der Fundamentalopposition der Gewerkschaften gegen das Mandat wenig wahrscheinlich.
Nun ist erst einmal Brüssel am Zug. Petros Mavromichalis (59), EU-Botschafter in Bern, sagt zu Blick: «Wir begrüssen die Verabschiedung des definitiven Verhandlungsmandates durch den Bundesrat. Auch die Arbeiten am Mandat seitens der EU sind weit fortgeschritten. Der EU-Ministerrat wird dieses in Kürze beschliessen. Danach können die Verhandlungen beginnen – ich hoffe, noch in diesem Monat.»
Doch die Gegner der Verhandlungen schlafen nicht. Am Dienstag lanciert die SVP ihre grosse Kampagne gegen Europa. Und für Cassis beginnt damit der wichtigste Kampf seiner politischen Laufbahn.