Über den öffentlichen Rundfunk in der Schweiz gibt es zwei Erzählungen.
Die eine lautet: Die SRG ist zum Koloss angewachsen, dessen Expansionstrieb alle Kanäle umfasst – Radio, Fernsehen, Internet. Der Konzern, der offiziell als Verein fungiert, ist mit 1,23 Milliarden Franken Gebührengeldern ausgestattet und über 5500 Vollzeitstellen stark. Er hat im Medienkosmos derart an Masse zugelegt, dass sich keine Konkurrenz mehr seiner Raumkrümmung entziehen kann.
Die andere Erzählung lautet: Der Service public steht politisch so stark unter Druck wie noch nie. Das gilt europaweit, für die britische BBC ebenso wie für ARD und ZDF in Deutschland oder den österreichischen ORF. In der Schweiz scheiterte der Angriff mit «No Billag» 2018 an der Urne zwar deutlich. Doch taucht mit der Halbierungs-Initiative ein wohl chancenreiches Vorhaben auf. Die Serafe-Gebühren sollen von 335 auf 200 Franken gesenkt werden. Im Juni teilte Mitinitiant und SVP-Nationalrat Thomas Matter (57) mit, dass die nötigen 100’000 Unterschriften beisammen sind.
Dazu kommt: Mit Albert Rösti (55) stellt das Initiativkomitee den neuen Medienminister. SonntagsBlick hat SRG-Generaldirektor Gilles Marchand (61) zum ersten Interview getroffen, seit die Vorlage zustande gekommen ist.
Herr Marchand, erinnern Sie sich an den 26. April?
Gilles Marchand: Sie meinen wohl die Mitteilung des Bundesrats zur Konzession.
Genau. An jenem Tag hatte die Landesregierung verkündet, dass sie die SRG-Konzession, also den staatlichen Service-Public-Auftrag, der 2024 ausläuft, nicht mehr automatisch erneuert. Stattdessen lässt der neue Uvek-Vorsteher Albert Rösti eine «Gesamtschau zur SRG» vornehmen. Sie dürften wenig Freude verspürt haben.
Ich finde es absolut legitim, dass sich ein neuer Departementschef zunächst eine Übersicht verschafft, bevor er Stellung nimmt. Zudem muss der Bundesrat vor dem Hintergrund der Halbierungs-Initiative alle Möglichkeiten prüfen. Ich kann deshalb gut verstehen, dass jemand, der neu im Amt ist, die Zeit braucht, um diese komplexe Situation zu überblicken.
Sie geben sich sehr gelassen. Mit Herrn Rösti ist ein Komiteemitglied der Halbierungs-Initiative Medienminister. Wie ist der Austausch mit ihm?
Wir stehen in regelmässigem Austausch mit dem Bundesamt für Kommunikation. Dieses prüft, ob und wie wir uns an die Konzession halten. Ich hatte auch mit Bundesrat Rösti schon mehrfach Kontakt und habe ihm darlegen können, wie wir arbeiten. Dass wir als Service-public-Unternehmen Transparenz schaffen, ist normal.
Die Annahme der SVP-Initiative wäre für Sie ein dramatischer Einschnitt. Dass der Bundesrat dieses Szenario bereits in seine Planung einbezieht, muss für Sie doch ein Schlag in die Magengrube sein.
Diese Initiative ist radikal. Mit 700 Millionen Franken im Jahr müssten wir die Hälfte abbauen, wir stünden vor einer ganz neuen Situation. Diese Initiative ist eine Attacke gegen die Schweiz und ihre Vielfalt.
Der Waadtländer Gilles Marchand (61) hatte in Genf Soziologie studiert, bevor er ins Verlagsgeschäft einstieg und Kunstbücher herausgab. Zu seinen späteren Stationen gehören die «Tribüne de Genève», Ringier Romandie und schliesslich Télévision Suisse Romande (TSR). 2016 wurde er als Nachfolger von Roger de Weck zum Generaldirektor der SRG gewählt. Marchand ist verheiratet und Vater zweier Kinder.
Der Waadtländer Gilles Marchand (61) hatte in Genf Soziologie studiert, bevor er ins Verlagsgeschäft einstieg und Kunstbücher herausgab. Zu seinen späteren Stationen gehören die «Tribüne de Genève», Ringier Romandie und schliesslich Télévision Suisse Romande (TSR). 2016 wurde er als Nachfolger von Roger de Weck zum Generaldirektor der SRG gewählt. Marchand ist verheiratet und Vater zweier Kinder.
Warum gegen die Schweiz? Das tönt etwas anmassend.
Weil wir ein Teil der schweizerischen Identität sind. Ausserdem ist die Initiative nicht nur für die SRG gefährlich, sondern für den ganzen Medienplatz Schweiz. Wir sind aber überzeugt, dass wir sie bekämpfen können.
Wie wollen Sie das schaffen?
Indem wir gut erklären, was das bedeuten würde. Denn wir spüren, dass die Bevölkerung uns unterstützt, dass sie den Zusammenhalt des Landes extrem schätzt, für den wir stehen. Sehen Sie sich an, was wir täglich für die nationale Solidarität leisten, in der Kultur, der Information, im Sport. Deshalb stehen die Leute auf unserer Seite. Wir sind so klein in der Schweiz mit ihren vier Sprachregionen, es gibt kein anderes Modell, um den Service public in diesen vier Regionen zu leisten. Ohne unsere Leistungen wären die Türen offen für ausländische Plattformen und Kanäle. Die Konkurrenz lauert nicht innen, sondern aussen. Wollen wir das? Ich glaube nicht.
Die Leier vom Zusammenhalt des Landes bringen Sie immer, wenn es eng wird, wie schon Ihr Vorgänger Roger de Weck. Fakt ist, dass sich die SRG unter Ihnen im Internet weiter massiv ausdehnt. SRF Online ist auf dem besten Weg, zur Nummer eins in der Deutschschweiz zu werden. Sie attackieren die privaten Schweizer Medien in ihrem wirtschaftlich wichtigsten Bereich.
Ich kenne das Argument. Zunächst: Wir sind weder das Problem noch die Lösung. Die privaten Medien haben eine schwierige Zeit, das ist mir klar, ich war früher selber Medienmanager, übrigens auch bei Ringier. Aber wir als SRG müssen da sein, wo unser Publikum ist. Und ein grosser Teil, gerade die Jungen, orientiert sich nun mal online.
Niemand kritisiert, dass Ihre TV- und Radiosendungen im Netz abrufbar sind. Der Punkt ist, dass SRF im Internet mit Gebührengeldern kontinuierlich ein voll ausgestattetes Newsportal aufgebaut hat. Das wird für Mitbewerber wie Blick, 20 Minuten oder Watson zum ernsthaften Problem und ist auch nicht der eigentliche Sinn des öffentlichen Auftrags.
Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die gesamte Bevölkerung so gut wie möglich zu informieren. Dass wir ein Problem für die Privaten sein sollen, ist längst nicht so klar, wie Sie es darstellen. In Norwegen hat eine Studie gezeigt, dass der dortige Service public mit seinem Onlineangebot den Privaten sogar hilft, weil dadurch das Bedürfnis nach News steigt. Wir sind bereit, mit den Privaten Lösungen zu finden, aber wir müssen auch die Jugend erreichen, und da reichen die klassischen audiovisuellen Formate nicht aus. Deshalb nutzen wir auch die sozialen Medien.
Wenn die Jungen auf Instagram, Tiktok oder Snapchat ihr eigenes Medienverhalten haben, brauchen sie die SRG halt nicht mehr. So what? Wofür betreiben Sie über 160 Social-Media-Kanäle?
Weil die Jungen unsere Inhalte auf diesen Netzwerken nutzen. Wir fahren mit unseren Social-Media-Kanälen aber längst eine fokussierte Strategie.
Was heisst das?
Wir haben die Zahl unserer Social-Media-Kanäle in den letzten Jahren sukzessive reduziert. Accounts, die zu wenig Beachtung finden, werden geschlossen. Wir sind nur dort in den sozialen Medien aktiv, wo wir die User nicht direkt mit unseren eigenen Plattformen erreichen, und führen sie so wieder zu uns. Darum geht es.
In jüngerer Vergangenheit versprachen Sie immer wieder Selbsteinschränkung: Erst kam der zwingende Sendebezug von Onlineartikeln, dann das Maximum von 1000 Zeichen Länge. Was immer mehr verwässert worden ist.
Das ist nicht korrekt. Das Bakom kontrolliert streng, ob wir uns an diese Regeln halten.
Okay, Sie verlinken einfach unter jedem Beitrag ein Audio-File.
Entscheidend ist etwas ganz anderes: Wir nehmen online keinen Rappen, haben keine Werbung auf unseren Plattformen, das ist der Hauptunterschied. Und zur Selbstbeschränkung: Ich finde dieses Zählen der Anzahl Zeichen eines Texts in der heutigen Zeit der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz – verzeihen Sie mir – auch ein wenig veraltet.
Also gut. Aber Sie brauchen für eine politische Mehrheit die Verlage als Partner. Welches Pfand bieten Sie denen für einen Schulterschluss?
Wir haben dem Verlegerverband sehr präzise Ideen präsentiert, zum Beispiel eine Beschränkung auf Social Media oder einen freien Zugang zu unseren Videos, zu unserem Rohmaterial und so weiter. Aber für eine Vereinbarung braucht es immer zwei.
Die Verleger haben Ihr Angebot ausgeschlagen?
Wir sind nach wie vor offen für Ideen und Lösungen.
2020 hatten Sie ein Sparpaket von 50 Millionen Franken angekündigt. Gesehen hat man davon bis jetzt praktisch nichts …
Falsch!
Im Geschäftsbericht 2022 rühmen Sie sich sogar für die «stabilen Kosten», die doch sinken müssten. Und der Personalaufwand ist seither gestiegen. Bereits kursiert der Übername «Tricky Gilles».
Lassen Sie mich sachlich antworten: Zwischen 2018 und 2022 haben wir 100 Millionen Franken gespart. Dann haben wir gesagt: Wir werden wahrscheinlich noch 50 zusätzliche Millionen sparen müssen.
Die Halbierungs-Initiative
Zusätzlich zu diesen 100 Millionen?
Genau. Bloss haben sich seither die kommerziellen Einnahmen, vor allem aus der TV-Werbung, besser entwickelt als gedacht. Unter anderem, weil wir 2021 ein gutes Sportprogramm hatten und weil unsere Vermarkterin Admeira einen guten Job macht. Wir haben eine etwas bessere Situation in einem negativen Trend. Aber die ersten 100 Millionen sind gespart!
War die Ankündigung der 50 Millionen ein kommunikativer Fehler?
Wie gesagt, die Situation hat sich nach Corona etwas besser entwickelt als erwartet.
Sie wirken sehr selbstbewusst, für einen allfälligen Gegenvorschlag zur Halbierungs-Initiative scheint man Sie wohl nicht gewinnen können.
Ich glaube nicht, dass Gegenvorschläge im Kampf gegen solche Initiativen am wirksamsten sind. Es sind die Leistungen, die zentral sind. Und ich sage nur: Es ist unmöglich, mit halb so vielen Gebührengeldern eine gute «Tagesschau» für das Tessin zu bieten.
Wobei die «Tagesschau» kein umstrittenes Format ist.
Und Sport? Fiktion? Wollen Sie das den Tessinern vorenthalten? Was viel kostet, sind nicht die Talksendungen. Was kostet, sind die Rechte und die Produktion. Wir haben auch Tessiner Sonderkorrespondenten in der Ukraine, weil wir überzeugt sind, dass es dort einen italienischsprachigen Korrespondenten braucht. Wir wollen den Tessinern die gleiche Qualität bieten wie Romands und Deutschschweizern. Das ist die Idée suisse.
Sie könnten auch hinstehen und signalisieren: Wir nehmen uns freiwillig etwas zurück, wir haben verstanden. Das gäbe Ihnen Support der Parteien. Die kritisieren Sie mittlerweile auch von links.
Am wichtigsten ist unsere Unabhängigkeit. Nie würden wir etwas publizistisch machen, um einen Deal zu erlangen. Wir werden kritisiert von rechts, manchmal von den Grünen, von den Linken. Aber ich bin mit allen Kollegen von ganz Europa in Kontakt: Der Service public ist überall unter Druck, das ist kein rein schweizerisches Problem. Unser Fokus gilt dem Publikum.
Wie sehen Sie denn die SRG der Zukunft?
Die SRG muss unabhängig von Kanälen arbeiten. Zuerst kommt der Inhalt, dann die Distribution. Wir müssen Inhalte produzieren und auch in Zukunft ein vielfältiges Programm bieten können – und mit den anderen Medien und Produzenten zusammenarbeiten. Die SRG muss eine eigene schweizerische Geschichte produzieren, mit News, mit Dokumentationen, mit Sport, mit Film.
Jetzt greifen Sie im Filmbereich noch tiefer in den Gebührentopf und erhöhen das Budget für den «Pacte de l’audiovisuel», das wichtigste Finanzierungsmittel der Branche, um 1,5 Millionen Franken.
Wir sind als SRG meist Koproduzenten. In diesem neuen Pacte investiert die SRG neu 34 Millionen pro Jahr in die Koproduktion von Schweizer Filmen. Dazu kommen unsere Direktinvestitionen von rund 15 Millionen Franken. Das ist gerade heute eine sehr wichtige Investition.
Wieso?
Filme erklären unsere Schweizer Realität. Von der Entscheidung, einen Film zu machen, bis zur Distribution dauert es mehrere Jahre. Darum braucht die Branche Sicherheit, um kreativ zu bleiben. Besonders in diesen Zeiten mit steigenden Preisen und grossen Herausforderungen wie der Entwicklung von künstlicher Intelligenz in Produktions- und Kreativprozessen – schauen Sie nach Hollywood, wo gestreikt wird.
Und was ist der Output?
Damit ermöglichen wir pro Jahr rund 80 Dokfilme, 35 Spielfilme und 7 bis 8 TV-Serien. So zeigen wir die Schweizer Vielfalt auch in der Fiktion. Das macht diese Brückenfunktion der SRG aus, von der ich rede.