Ukrainekonferenz
Blick enthüllt: Das steht in der ursprünglichen Bürgenstock-Erklärung

Auf dem Bürgenstock sollte eine Nachfolge-Konferenz bekannt gegeben werden. Doch die entscheidende Passage flog aus der Abschlusserklärung, wie Blick-Recherchen zeigen. Interne Dokumente legen offen, wie der Bundesrat seine Ziele stutzen musste.
Publiziert: 23.06.2024 um 00:02 Uhr
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Aktualisiert: 23.06.2024 um 12:34 Uhr
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Eigentlich war geplant, auf dem Bürgenstock den Ort für eine Nachfolge-Konferenz zu benennen.
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Raphael RauchBundeshausredaktor

EDA-Staatssekretär Alexandre Fasel (63) feiert seine Diplomaten. In einem E-Mail an die Belegschaft würdigt er die Bürgenstock-Konferenz als historisches Ereignis, das sich der «schleichenden Banalisierung des Völkerrechts und der UN-Charta entschlossen» widersetzt habe. «Welch eine Freude und Motivationsquelle, mit so leistungswilligen und -starken Kolleginnen und Kollegen arbeiten zu dürfen», schwärmt der Chefdiplomat und spricht von einem «neuen Goldstandard».

Die nächsten Schritte bedürften «einer vertieften Nachlese und weitreichender Konsultationen». Bürgenstock-Koordinator Gabriel Lüchinger (47) sei mit Sicherheitsberatern «in allen Herren Länder» im Gespräch. «Seine Reisetätigkeit dürfte in den kommenden Wochen kaum abnehmen!», kündigt Fasel an. «Sicher ist aber, dass wir uns in diesem Prozess als bedeutender, allseits anerkannter Akteur positioniert haben und weiter wirken werden.»

Das lief auf dem Bürgenstock hinter den Kulissen
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Blick-Reporter gibt Einblick:Das lief auf dem Bürgenstock hinter den Kulissen

Der Folgeschritt bleibt aus

Doch bei all den schönen Worten – tatsächlich blieb das Treffen weit hinter den erhofften Zielen zurück. Das Fazit von Bundespräsidentin Viola Amherd (62) klang deutlich nüchterner: «Wir haben erreicht, was unter den Vorzeichen zu erreichen war.» Eigentlich wollte sie einen konkreten Fahrplan verkünden. Doch ausser der Einladung von Kanadas Premier Justin Trudeau (52) zu einer Aussenminister-Konferenz blieb der Folgeschritt aus.

Blick liegt eine Entwurfsfassung des Abschlusskommuniqués vor. Demnach sollten künftig «Vertreter der Russischen Föderation einbezogen werden». Und weiter: «Wir kamen überein, den zweiten hochrangigen Friedensgipfel in [***] abzuhalten.» Doch der Abschnitt musste umgeschrieben werden. Statt von Russland war nun von «allen Parteien» die Rede; der Ort für die Nachfolge-Konferenz fiel ganz weg.

Putin kann sich Konferenz in der Schweiz vorstellen

Klar ist: Nach wie vor ist kein Friede in Sicht. Der russische Diktator Wladimir Putin (71) sagte diese Woche in Nordkorea, Russland sei bereit, über eine Beilegung des Ukraine-Konflikts zu verhandeln: in Minsk, Istanbul (Türkei) oder in der Schweiz. Offenbar ist Bern seit der Übernahme der Russland-Sanktionen doch nicht so russlandfeindlich, wie es zwischendurch aus dem Kreml tönte.

Das Bürgenstock-Kommuniqué hat zwischen Entwurf und Endfassung mehrere Änderungen erfahren, wie eine Analyse von Blick zeigt:

  • Russland als Aggressor: Mit einem weichgespülten ersten Satz versuchten die EDA-Diplomaten, möglichst viele Länder auf den Bürgenstock zu locken. Im Entwurf war vom «anhaltenden Krieg gegen die Ukraine» die Rede, der Aggressor wurde nicht beim Namen genannt. In der Endfassung steht hingegen «Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine».
  • Uno-Resolutionen: Im Entwurf spielten die Uno-Beschlüsse keine Rolle. Die Bürgenstock-Erklärung verweist jedoch auf zwei Resolutionen. Im Gegensatz zur Resolution der Uno-Vollversammlung, die den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mit 141 Stimmen klar verurteilte, haben die Bürgenstock-Erklärung nur 81 Staaten unterschrieben.
  • Atomare Sicherheit: Der Entwurf forderte, die Prinzipien der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) zu wahren. Die Schlussfassung fordert auch die Überwachung von Atomkraftwerken durch die IAEA.
  • Ernährungssicherheit: Dieser Passus wurde um einen Satz ergänzt, wonach «Angriffe auf Handelsschiffe in Häfen und entlang der gesamten Route sowie auf zivile Häfen und zivile Hafeninfrastruktur inakzeptabel» sind.
  • Gefangenenfreilassung: Der Entwurf sprach allgemein von Gefangenen, in der Schlussfassung ist ausschliesslich von Kriegsgefangenen die Rede.

Zu den Wermutstropfen der Bürgenstock-Konferenz gehört, dass Kolumbiens Präsident Gustavo Petro (64) seine Teilnahme kurzfristig absagte – er stand bereits auf der Teilnehmerliste. Petro begründete seine Stornierung damit, dass Russland nicht eingeladen war. Dafür meldete sich Mauretanien kurzfristig an.

Jordanien, Irak und Ruanda springen ab

Beim Kommuniqué handelt es sich um ein «lebendes Dokument», wie das EDA betont: Andere Staaten können abspringen oder sich anschliessen. So liessen sich Jordanien, Irak und Ruanda von der Liste streichen. Hinzu kamen dafür das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel, Antigua und Barbuda, die Organisation Amerikanischer Staaten, Sambia, die Republik der Marshallinseln und Barbados. «Lauter Schwergewichte, die Einfluss auf Putin nehmen könnten», lästert ein erfahrener EDA-Diplomat.

Tatsächlich gibt es eine Diskrepanz zwischen den Eingeladenen und den Unterzeichnern. Das EDA wollte 160 Länder einladen, die eine potenzielle Rolle spielen können, «um die beiden Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen». Da die Anmeldungen zunächst schleppend eintrudelten, musste das EDA mehrmals die Anmeldefrist verlängern.

«Diplomaten sollen auf höchstem Niveau motivieren»

Ende Mai begann die Operation Desperados (spanisch für Verzweiflung): Am 31. Mai verschickte um 10.59 Uhr Schweizer Zeit das EDA ein E-Mail an die Auslandsvertretungen mit der Bitte, beim Gastland erneut vorstellig zu werden und «auf höchstem Niveau zu einer Teilnahme zu motivieren». Zwar konnten so noch ein paar Länder hinzugewonnen werden. Schwergewichte blieben jedoch fern.

Kritik kommt inzwischen von reformierter und ökumenischer Seite. Auf den Bürgenstock war der Vatikan und das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel eingeladen – nicht aber der Weltkirchenrat in Genf, der auch die russisch-orthodoxe Kirche und die Protestanten vertritt. Rita Famos (58), Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, sagt zu Blick: «Ich bedauere, dass der Ökumenische Rat der Kirchen nicht als Beobachter eingeladen wurde, da er mit allen orthodoxen Kirchen in der Ukraine im Kontakt ist.» Auch der Weltkirchenrat in Genf reagiert verschnupft. «Es wäre wertvoll gewesen, wenn wir als grösstes ökumenisches Gremium der Welt anwesend gewesen wären», sagt Sprecherin Marianne Ejdersten (54). Während des Kalten Krieges war der Weltkirchenrat immer wieder eine Dialogplattform zwischen Ost und West, was beim EDA offenbar in Vergessenheit geraten ist.

Gute Dienste für Mexiko

Trotz aller Kritik konnte Aussenminister Ignazio Cassis (63) am Rande des Gipfels einen diplomatischen Erfolg eintüten: Ecuador hat die mexikanische Botschaft in Quito gestürmt – seitdem herrscht eine Eiszeit zwischen beiden Ländern. Nun vertritt die Schweiz im Rahmen ihrer Guten Dienste die diplomatischen und konsularischen Interessen des Tequila-Landes Mexikos in Ecuador. Beim Staatsbankett gab es Aargauer und Walliser Wein. Doch das Bürgenstock-Fazit lautet: Tequila und Desperados!

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