EDA-Geheim-Papier offenbart Differenzen
Cassis' Zoff um Palästina-Hilfswerk

Ignazio Cassis würde der UNRWA am liebsten den Geldhahn zudrehen. Doch intern weiss sein Ministerium: Das Uno-Hilfswerk ist praktisch alternativlos.
Publiziert: 05.05.2024 um 11:03 Uhr
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Aktualisiert: 05.05.2024 um 14:48 Uhr
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Die Menschen im Gaza-Streifen brauchen dringend Hilfe.
Foto: Anadolu via Getty Images

207 Tage lang hielt Aussenminister Ignazio Cassis (63) den wichtigsten Schweizer Uno-Diplomaten hin. Erst 207 Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel nahm sich Cassis Zeit, Philippe Lazzarini (60) zu empfangen, den Chef des Uno-Palästinenserhilfswerks UNRWA. Die Schweiz zählte früher zu dessen zehn grössten Geldgebern. Vorgesehen war, die Uno-Organisation im laufenden Jahr mit 20 Millionen Franken zu unterstützen – doch seit dem Hamas-Terror vom 7. Oktober ist alles anders.

Das Treffen am 1. Mai kommentierte Cassis auf X maximal unterkühlt: «Gespräche in Bern mit dem Generalkommissar UNRWA über die Lage in Gaza.» Lazzarini reagierte sofort: «Die Agentur und die Flüchtlinge in Palästina zählen auf das Engagement und die humanitäre Tradition der Schweiz, um auf die beispiellose Krise in Gaza zu reagieren.»

Der FDP-Bundesrat und der Uno-Topdiplomat gaben sich wenig Mühe, ihre gegenseitige Abneigung zu verbergen. Bereits 2018 sagte Cassis, die UNRWA sei «Teil des Problems» im Nahen Osten. Und nach dem 7. Oktober 2023 drehte er dem Hilfswerk den Geldhahn zu. Begründung: UNRWA-Mitarbeiter seien an den Anschlägen der Hamas beteiligt gewesen.

Die zwei Gesichter eines Bundesrats

Nach aussen markiert Cassis gern den harten Hund. Intern spricht das Aussendepartement (EDA) anders. «In Gaza ist die UNRWA die grösste und wichtigste humanitäre Akteurin», steht in einem vertraulichen EDA-Bericht, den Blick einsehen konnte. «Aufgrund der laufenden Krisensituation hätte keine Organisation kurzfristig die Kapazität, ihre Aktivitäten vollumfänglich zu übernehmen.» Eine Aussetzung der UNRWA-Leistungen – etwa im Gesundheits-, Sozial- oder Bildungsbereich – hätte «wahrscheinlich zusätzliche destabilisierende Folgen».

Doch obwohl das Aussendepartement der UNWRA Systemrelevanz attestiert, soll sie vorerst keine Gelder aus der Schweiz erhalten. Cassis will einen weiteren Untersuchungsbericht abwarten.

Auf die Vorwürfe gegen ihr Hilfswerk, die zuerst von der Regierung Israels erhoben worden waren, reagierten die Vereinten Nationen mit zwei Untersuchungen. Die französische Ex-Aussenministerin Catherine Colonna (68) veröffentlichte die erste am 22. April, der Bericht entlastet die UNRWA zumindest in Teilen und empfiehlt Verbesserungen. Die zweite Untersuchung läuft noch.

Nationalräte gegen Cassis

Die Blockade der Hilfszahlungen für Palästinenser sorgt in der Politik für Kopfschütteln: Die Region im Nahen Osten, die aktuell die grösste humanitäre Katastrophe durchleidet, erhält vergleichsweise wenig Geld. Deshalb widersprach die Aussenpolitische Kommission (APK) des Nationalrats am Montag dem Aussenminister: Mit 13 zu 11 Stimmen forderte die APK, der Bundesrat solle «im Sinne der humanitären Tradition der Schweiz» UNRWA-Gelder für Gaza freigeben. Am Montag diskutiert der Ständerat dieselbe Frage.

Zu den schärfsten Gegnern der Uno-Hilfsorganisation zählt Hillel Neuer (54) von der Nichtregierungsorganisation UN Watch, der ihre Abschaffung fordert. Neuer war zu Gast im Bundeshaus und sprach den Parlamentariern ins Gewissen.

EDA-intern wird seine NGO hingegen kritisch gesehen. In einem vertraulichen Dokument, das Blick vorliegt, schreibt die Schweizer Botschaft in Tel Aviv im Jahr 2020: «Israel hat eine ausgeklügelte Strategie entwickelt, um auf internationaler Ebene Einfluss zu nehmen und das israelische Narrativ zu fördern, insbesondere in Bezug auf die Palästinenserfrage und den Iran.» Hierzu zähle auch die Arbeit von UN Watch.

Laut der internen EDA-Analyse würde Israel die UNRWA «am liebsten abschaffen, um den Palästinensern einen ihrer wenigen Hebel in möglichen Friedensverhandlungen zu nehmen, nämlich das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge».

«Keine realistische Alternative zur UNRWA»

Einen Kontrapunkt zum UNRWA-Bashing setzte die neue Direktorin des Hilfswerks der Evangelisch-reformierten Kirche HEKS, Karolina Frischkopf (46). Die ehemalige Rotkreuz-Vizedirektorin machte gegenüber dem Parlament deutlich: «Die Situation in Gaza ist katastrophal.» Das Hilfswerk sei aktuell in der Region alternativlos: «Nur die UNRWA verfügt über die Infrastruktur, alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen und auch Familien, Frauen und Kinder zu versorgen. Mittelfristig gibt es keine realistische Alternative zur UNRWA, um eine noch grössere humanitäre Katastrophe im Gazastreifen zu verhindern.»

Dem Vernehmen nach will der Bundesrat bereits am Mittwoch über die eingefrorenen UNRWA-Gelder entscheiden.

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