Der Schweizer Diplomat im Gaza-Konflikt
«Ich muss Schlafmittel nehmen»

Philippe Lazzarini leitet das Palästinenser-Hilfswerk UNRWA. Ein Gespräch über Foltervorwürfe gegen Israel – und sein schwieriges Verhältnis zu Ignazio Cassis.
Publiziert: 23.03.2024 um 19:59 Uhr
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UNRWA-Boss Philippe Lazzarini steht unter Druck.
Foto: AFP
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Herr Lazzarini, haben Sie den schwierigsten Job der Welt?
Philippe Lazzarini: Ich habe sicher keinen einfachen Job, sondern eine Art «Mission impossible». Doch mich motiviert unser Auftrag: Wir kümmern uns um die palästinensischen Flüchtlinge.

Die israelische Regierung fordert Ihren Rücktritt. Wie lange können Sie sich noch im Amt halten?
Mein Mandat dauert noch zwei Jahre. Und mein Auftrag kommt von der Uno-Generalversammlung, nicht von Jerusalem. Israel fordert regelmässig den Rücktritt des UNRWA-Generalkommissars – unabhängig davon, wer dieses Amt gerade ausfüllt. Ich nehme die Rücktrittsforderung nicht persönlich.

Seit dem Terror-Angriff der Hamas vom 7. Oktober steht Ihre Organisation stärker in der Kritik denn je. Können Sie noch gut schlafen?
Nein. Ich muss Schlafmittel nehmen – die helfen etwas, aber ich schlafe nicht gut. Ich muss jederzeit erreichbar sein, rund um die Uhr. Aber nicht nur ich stehe unter Druck: Auch meine Kolleginnen und Kollegen leisten Enormes.

Der US-Kongress hat am Donnerstag beschlossen, der UNRWA die Unterstützung zu streichen. Was bedeutet das für Ihre ohnehin finanziell klamme Organisation?
Es ist schrecklich, dass die UNRWA immer am Rande des finanziellen Kollapses steht. Ich bedauere die Entscheidung von Washington sehr. Die USA sind ein sehr wichtiger Partner. Der Kongress hat ein einjähriges Einfrieren der Gelder beschlossen. Es handelt sich also um einen befristeten Stopp. Wir haben nächstes Jahr die Möglichkeit, auf eine neue Entscheidung hinzuwirken.

Persönlich

Philippe Lazzarini (60) ist ein schweizerisch-italienischer Diplomat. Seit 2020 leitet er das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) als Generalkommissar. Israel wirft Mitarbeitenden der Organisation vor, bei den Anschlägen vom 7. Oktober mitgewirkt zu haben. Lazzarini ist verheiratet und hat vier Kinder.

Philippe Lazzarini (60) ist ein schweizerisch-italienischer Diplomat. Seit 2020 leitet er das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) als Generalkommissar. Israel wirft Mitarbeitenden der Organisation vor, bei den Anschlägen vom 7. Oktober mitgewirkt zu haben. Lazzarini ist verheiratet und hat vier Kinder.

Am Freitag blockierten Russland und China die Forderung nach einer Waffenruhe im Uno-Sicherheitsrat.
Ich hatte sehr gehofft, dass der Sicherheitsrat einen sofortigen Waffenstillstand fordert. Das hätte Chancen für eine Freilassung der israelischen Geiseln eröffnet und die Situation der Menschen in Gaza deutlich verbessert. Die Palästinenser stehen am Rande einer Hungersnot. Das, was wir im Gazastreifen leisten, ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Nun müssen wir schauen, wie wir ohne Waffenstillstand unsere Hilfe intensivieren können.

Laut Medienberichten hat Israel UNRWA-Angestellte verhaftet. Nach deren Freilassung berichteten sie von «Folter, schweren Misshandlungen und Übergriffen». Einige sagten, sie seien zu Geständnissen über die Verbindungen zwischen der UNRWA und dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober gezwungen worden. Können Sie das bestätigen?
Wir haben Zeugenaussagen aus erster Hand, die Israel systematische Misshandlung und Folter vorwerfen. Ich weiss von freigelassenen Personen, dass sie zu falschen Zeugenaussagen gezwungen wurden. Wir haben Israel um Aufklärung gebeten.

Welches Problem hat Aussenminister Ignazio Cassis mit Ihnen?
Worauf wollen Sie hinaus?

Emmanuel Macron hat Sie nach dem 7. Oktober mehrmals angerufen – Ignazio Cassis kein einziges Mal. Dabei sind Sie Schweizer Spitzendiplomat.
Ich habe mich zu meinem Amtsbeginn 2020 intensiv mit Bundesrat Cassis ausgetauscht. Mir war wichtig, nach dem belasteten Verhältnis mit meinem Vorgänger einen Neuanfang zu machen. Es stimmt, dass wir uns schon länger nicht mehr gesehen haben. Das lag an Terminproblemen.

Macrons Terminkalender dürfte noch voller sein als der von Herrn Cassis …
Viele Staats- und Regierungschefs wollten mich seit dem 7. Oktober sehen. Ich hoffe, ein Treffen mit Bundesrat Cassis kann bald stattfinden.

Israel behauptet, man könne die UNRWA sofort auflösen.
Das ist nicht wahr. Es gibt keine andere Organisation der Vereinten Nationen, die das leisten könnte, was wir leisten. Es gibt keine andere Uno-Organisation, die Kindern öffentliche Bildung anbietet.

Laut Israel könnte das Uno-Welternährungsprogramm den Hunger in Gaza bekämpfen.
Die haben in Gaza nur 30 bis 40 Mitarbeiter. Wir brauchen nicht nur Notfallhilfe, sondern auch Pläne, wie es in den nächsten Jahren weitergeht. Wenn Sie die Entwicklungshilfe jetzt weiter kürzen, säen Sie die Saat für zukünftigen Hass und Ressentiments. Die UNRWA ist alternativlos. Es gibt keine ordentliche Verwaltung und keinen Staat, der unsere Tätigkeiten stemmen könnte.

Die EU will Sanktionen gegen radikale israelische Siedler erlassen und ihnen die Einreise verweigern. Sollte sich die Schweiz diesen Bestrebungen anschliessen?
Als Schweizer Staatsbürger bin ich der Meinung, dass alle Hindernisse für den Frieden aus dem Weg geräumt werden sollten. Es gibt radikale Siedler, die sich im Westjordanland wie Terroristen verhalten. Sie sollten sanktioniert werden.

Israel findet immer wieder neue Beispiele von UNRWA-Schulbüchern mit antiisraelischen oder antisemitischen Inhalten. Weshalb ist es so schwierig, dies zu verhindern?
Wir dulden weder Antisemitismus noch Aufrufe zur Gewalt oder die Verherrlichung von Terrorismus. Wir konnten die Qualität der Schulbücher verbessern. Viele Anschuldigungen beziehen sich auf alte Ausgaben von 2015 oder 2017.

Ein aktuelles Beispiel betrifft eine Landkarte in den Farben Palästinas – Israels Existenz wird ignoriert.
Die UNRWA-Lehrer sind angewiesen, darauf hinzuweisen, dass dies ein Teil der Karte des historischen Palästina ist. Sie müssen auch eine moderne Karte Palästinas zeigen – mit Israel.

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