Als Urgrossvater Ambrosius (1877–1969) zum Vegi wurde, verlachte man ihn noch als Gras- und Wurzelfresser. Die Zeiten haben sich zum Glück geändert. Rolf Hiltl (55) führt das älteste Vegi-Restaurant der Welt in vierter Generation. Das Haus Hiltl an der Zürcher Sihlstrasse ist vor bald 125 Jahren eröffnet worden, im Dezember 2000 kam das Tibits im Seefeld hinzu.
Die Idee zum Vegi-Fast-Food stammt aber nicht von Rolf Hiltl, sondern von den drei Frei-Brüdern Christian, Daniel und Reto. Reto Frei (46) studierte an der ETH, als er 1998 für seinen Businessplan bei einem Wettbewerb gleich zweifach prämiert wurde. «Das war eine Überraschung, auch bei den Medien kamen wir damit gut an», erinnert er sich. «Vielleicht weil beim Thema Ernährung alle mitreden können.»
Gehobener, gesunder Fast Food
Rolf Hiltl ist denn auch durch einen Zeitungsartikel auf die Brüder aufmerksam geworden: «Ich erkannte die drei als Stammgäste, und die Idee von gehobenem, gesundem Fast Food und Take-away schwebte bei mir auch schon im Raum.» Die Jungunternehmer und der Vegi-Veteran verstanden sich auf Anhieb. «Uns war es wichtig, dass wir das gleiche Wertesystem haben. Uns geht es nicht bloss ums Geschäft, sondern vor allem um den Sinn dahinter. Wir wollen mehr als Essen zubereiten.»
80 Prozent der Kundschaft der Hiltl- und Tibits-Betriebe sind Flexitarier, also Menschen, die Fleisch und Vegi essen. «Da gehöre ich selber dazu. Ein- bis zweimal die Woche gibts Fleisch», gibt Rolf Hiltl unumwunden zu. «Ich bin da keineswegs missionarisch unterwegs – weder privat noch den Gästen gegenüber.» Denn dem Tierwohl sei auch gedient, wenn die Leute weniger Fleisch essen. «Viele eingefleischte Karnivoren lassen sich heute auch ein Vegi-Menü schmecken, diesbezüglich haben wir sicher Pionierarbeit geleistet.» Auch in Bezug auf die Vielfalt des Angebots: «Früher mussten sich Vegis oft mit Beilagen begnügen.»
Verzicht und Gelächter
Das kennt Reto Frei nur allzu gut. Er hatte seinen «Poulet-Moment» im Kindergarten. «Ich erinnere mich genau, wie sich meine älteren Brüder um die Flügeli stritten, während ich realisierte, dass das, was da auf unserem Teller lag, mal lebendig gewesen war. Da ist mir die Lust auf Fleisch vergangen.» Damals bedeutete das auch Verzicht und Gelächter: «In einem Jugendlager mit 50 Teilnehmern war ich der einzige Vegi, besonders unter Jungs galt man da schnell als Weichei.»
Tierliebe, Klimaschutz oder Gesundheit, es gibt verschiedene Motivationen, auf Fleisch zu verzichten: «Mein Urgrossvater – ein gelernter Schneidergeselle – litt damals an schlimmer Gicht und hatte solche Schmerzen, dass er kaum noch arbeiten konnte», erzählt Rolf Hiltl. «Auf Anraten des Arzts hin verzichtete er auf Fleisch und wurde Stammgast im damaligen ‹Vegetarierheim & Abstinenzcafé›, drei Monate später war er geheilt. Kein Wunder wurde er überzeugter Vegetarier.»
Der Vegi-Veteran isst Fleisch
Aber warum schafft es ein Rolf Hiltl, der aus einer Familie von Vegi-Veteranen stammt, nicht, ganz auf Fleisch zu verzichten? «Ich glaube, das steckt über viele Generationen in unserer Kultur mit drin. Als Vegi ist man ausserdem kein besserer Mensch. Ich bewundere es, wenn Leute so konsequent sind wie Reto, das sind ja immer noch wenige.» Laut Statistik ernähren sich 5,8 Prozent der Schweizer vegetarisch, 2,6 Prozent sind Veganer: «In den Städten und unter der jungen Generation sind es aber viel mehr. Und die sind auch in 20 Jahren noch unsere Gäste.»
Wegen der Massentierhaltung ist heute nicht nur Fleisch unter Beschuss, sondern auch Milchprodukte. Darum bekommt, wer im Tibits und im Hiltl eine «Schale» bestellt, laut Reto Frei automatisch eine mit Hafermilch, Kuhmilch ist zweite Wahl. «Wir stellen nach und nach auf vegan um, inzwischen sind das 80 Prozent unserer Gerichte. Priorität hat aber immer der Geschmack.»
Fleisch und Fliegen: Beides ist zu billig
Apropos Klima: Was ist denn nun schlimmer: Fliegen oder Fleisch? «Zu Zeiten meines Urgrossvaters Ambrosius war der Sonntagsbraten noch Luxus, heute ist das Fleisch viel zu billig – auf Kosten der Tiere», so Rolf Hiltl. «Und Fliegen ist heute auch zu günstig. Beides muss wieder an Wertigkeit gewinnen.» Immerhin gebe es seit zehn Jahren auch Vegi-Food von Hiltl an Bord der Swiss.
Die Reisebranche ist aber wegen der Pandemie genauso am Boden wie die Gastro- und Kulturbetriebe. «Unser Familienunternehmen hat zwei Weltkriege überstanden. Was wir jetzt erleben, ist massiv. Wir waren vor der Pandemie kerngesund und haben jetzt nur noch halb so viel Umsatz wie im letzten Jahr», sagt Rolf Hiltl. Zugleich zeige die Krise allerdings deutlich, dass Essen mehr ist als reine Nahrungsaufnahme. «Die Menschen sehnen sich nach geselligem Beisammensein.» Darum würden sich die Lokale wieder füllen. «Aber nicht alle werden diese Krise überstehen, deshalb brauchen die betroffenen Branchen dringend Unterstützung.»
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