Vegi-Papst Rolf Hiltl im Interview
«Die Schweiz ist keine Food-Nation»

Rolf Hiltl ist der Vegi-Papst der Schweiz. Seine Restaurants sind überall. Er erklärt, warum er an die ­Langstrasse expandiert hat und nicht ganz auf Fleisch verzichtet.
Publiziert: 29.09.2017 um 13:08 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2021 um 18:15 Uhr
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Rolf Hiltl in seinem neuen Club Perle in der Langstrasse – unterhalb des Hiltl-Restaurants.
Foto: Blick
Interview: Alexandra Fitz, Fotos: Daniel Kellenberger

BLICK: Herr Hiltl, Sie träumen von einem eigenen Bauernhof. Hätte Ihr Bauernhof Tiere?
Rolf Hiltl:
Ja.

Könnten Sie die Tiere selber schlachten?
Ja, das könnte ich. Das ist auch meine These. Wer ein Tier isst, sollte es auch schlachten können.

Gute Einstellung.
Vor drei Jahren waren wir in Kairo auf einem Markt. In einem Hinterhof haben sie herzige «Küngeli» getötet. Auf eine nicht so nette Art. Mein Sohn Téo, damals elf Jahre, hat zugeschaut. Ich habe ihn dann gefragt: So Téo, isst du noch Fleisch? Er schaute mich an und sagte: Ja. Und ich meinte: Wenn du damit umgehen kannst, ist das o.k.

Der Vegi- und Vegan-Boom ist doch langsam durch.
Nicht unbedingt. Alles was Mainstream wird, und das ist es jetzt, wird irgendwann normal. Die Frage ist aber: Ist es eine Welle oder eine Bewegung? Ich glaube, es ist eine Bewegung, und die geht weiter.

Auch Hiltl und Tibits sind omnipräsent. Keine Angst, dass die Qualität leidet oder die Speisen ihren Reiz verlieren?
Das ist eine gute Frage. Mein Vater versuchte in den 70er-Jahren ein zweites Hiltl im Niederdorf aufzumachen, das ging gröber in die ­Hosen. Ich habe früh gemerkt, dass das Vegetarische und Vegane stark kommt. Ich glaube, unsere Gastronomie ist sinnstiftend. Und etwas Sinnstiftendes sollte man möglichst vielen Menschen zugänglich machen. Das ist die Motivation zu wachsen.

Was meinen Sie genau mit ­sinnstiftend?
Je mehr Restaurants wir aufmachen, desto weniger Tiere werden getötet. Das macht Sinn. Sinn für die nächste Generation. Wir übernehmen Verantwortung für Mensch, Tier und Natur.

Dafür gibt es bei Ihnen Avocado und Quinoa. Diese sind gemäss ­neueren Studien ethisch genauso wenig vertretbar.
Was der Mensch essen darf, ist eine philosophische Frage. Ich glaube grundsätzlich, der Mensch darf ­essen, was ihm durch die Schöpfung gegeben wurde. Aber durch die Globalisierung spicken die Waren durch die ganze Welt, da muss man Grenzen setzen. Bei uns ist ein Drittel des Buffets saisonal und sehr oft lokal. Aber wir haben auch asiatisches Essen. Das finde ich nicht falsch.

Falsch ist nur Fleisch?
Dass Fleisch heute so billig ist, ist einfach nicht normal. Zu Urgrossvaters Zeiten gab es den Sonntagsbraten. Einmal in der Woche ist das okay. Aber wenn ich mit den Kollegen essen gehe, bestellt jeder das Rindsfilet.

Auch wenn Sie dabei sind?
Ja, ja. Wir waren gerade in München am Oktoberfest, und am Abend davor in einer Szene-Beiz haben alle Rindsfilet bestellt. Ich hab dann halt auch mitgemacht.

Sie mögen Steak, Bratwurst und offensichtlich Rindsfilet. Wie passt das zusammen mit dem Image des Ur-Vegetariers?
Wir sind mit Hiltl nicht missionarisch unterwegs. Unser Motto heisst: gesunder Genuss. Wir wollen Menschen mit gutem Essen, ­lässiger Atmosphäre und coolen Produkten überzeugen. Und per Zufall – überspitzt gesagt – hat es weder Fleisch noch Fisch.

Per Zufall?
Natürlich ist es kein Zufall. Wir sind das älteste vegetarische Restaurant der Welt, und ich bin sehr dankbar dafür. Für das Hiltl stirbt kein Tier.

Für Sie persönlich aber schon.
Dass ich hin und wieder Fleisch esse, ist mein persönlicher Entscheid. Die Hardcore-Diskussion zwischen Veganern und Fleisch­essern nervt. So bin ich nicht. Ich mache Ausnahmen, esse aber immer weniger Fisch und Fleisch.

Flexitarier sind ja im Trend. So wie explizite Fleischrestaurants.
Jeder Trend hat einen Gegentrend. Und natürlich bäumt sich das Volk auch auf und sagt: So jetzt ist fertig, jetzt essen wir wieder ein Steak.

Wie gehen Sie mit Konkurrenz um? Das vegetarische Angebot ist enorm.
Wir waren über Jahrzehnte die Einzigen. Früher nannte man das Restaurant Wurzel-Bunker, die Gäste Grasfresser. Mein Vater wurde gehänselt. Ich übrigens auch noch im Chindsgi. In den 70er-Jahren kehrte es, und wir wurden kopiert, aber die Restaurants mussten oft wieder schliessen. Seit etwa zehn Jahren gibt es welche, die das auch sehr gut machen. Das finde ich positiv. Der Beweis dafür ist die Hiltl-Akademie, in der wir neben Privatpersonen auch Profis schulen – und somit unsere Mitbewerber ausbilden.

Ist Vegetarismus vererbbar?
Ich rede von vegetarischer oder ­veganer Ernährung. «-ismen» finde ich schwierig. Aber ja, ich glaube schon. Ernährung hat sehr viel mit Tradition zu tun, und wir in der Schweiz leben in einem Fleisch-Milch-Käse-Land. Wenn wir in ­Delhi wären, müssten wir nicht ­darüber reden. Bei uns ist es deshalb auch schwierig, Leute in ­einem gewissen Alter für vegeta­rische und vegane Ernährung zu begeistern. Die Tradition sagt, du musst eine Bratwurst essen.

Gab es bei Ihnen zu Hause kein Fleisch?
Doch, doch. Meine Mutter ist Deutsche, da gab es natürlich Wurst.

Sie sind Teilzeit-Vegi, Club­besitzer, Christ, Harley-Fahrer. Das ist recht beliebig.
Ich finde Vielfalt spannend. Ich fahre auch einen Elektro BMW und empfinde es nicht als Widerspruch, dass ich auch Harley fahre.

Sie haben einmal gesagt, Gott stehe für Sie an erster Stelle.
Ich halte nichts von Ranglisten. Aber ich finde wichtig, dass wir ­wissen, woher wir kommen. Wenn ich Menschen ansehe, glaube ich, dass jeder von uns Schöpfung ist, und ich kann einfach nicht glauben, dass das alles Zufall sein kann.

Sie haben im Dolder Grand die Kochlehre gemacht. Könnten Sie heute noch in einem Gourmet­restaurant mit 18 Gault-Millau-Punkten und 2 Michelin-Sternen arbeiten?
Nicht unbedingt, das ist nicht meine Welt. Ein Beispiel: Seit sieben Jahren liefern wir die vegetarischen und veganen Gerichte für Langstreckenflüge der Swiss. Sie wollten das ursprünglich nur in der First Class anbieten. Ich habe dann aber gesagt: Nein für alle Klassen, sonst machen wir das nicht.

Sie haben ein Vegi-Imperium aufgebaut. Hiltl im Flieger, in der Badi. Elf Tibits-Restaurants. Wo wollen Sie noch hin?
Mit den Gebrüdern Frei habe ich für Tibits eine Vision. Letztens hat mir ein Freund gesagt, wenn man eine Vision hat, muss man zum Psychiater. Aber ich finde Visionen gut. Also, wir möchten der weltweite ­Inbegriff sein für vegetarischen Fast Food. Davon sind wir noch weit entfernt. Ein neues Restaurant innerhalb Europas ist bereits geplant. Mit Hiltl suche ich das nicht.

Hiltl ist nur in Zürich. Warum?
Wir wollen in Zürich einzigartige Restaurants betreiben. Ich habe täglich Angebote, um irgendwo eine Filiale aufzumachen. Aus Europa, den USA, Dubai. Und natürlich auch von Zürich. Ich sage oft Nein, aber Menschen können das häufig nicht verstehen. Nein sagen ist auch schwieriger als Ja sagen.

Was hat es mit dem Haus Hiltl in New York auf sich?
Das ist ein persönlicher Traum. I love New York. Der Kreis 4 ist sehr cool, aber mit Brooklyn verglichen ist es hier fast schon bünzlig. Ich mag es, dass Amerikaner sagen: Just do it! Sie sind im Gegensatz zu uns offener für Neues.

Und wann gibt es Hiltl im Big Apple?
Vielleicht in fünf Jahren.

Doch erst mal gibt es Hiltl seit diesem Wochenende auch im Zürcher Kreis 4. Warum Lang­strasse?
Ich finde den Kreis 4 das spannendste Quartier Zürichs. Ich mag Multikulti. In Grossstädten gibt es in den bekannten Strassen überall dasselbe. Hier an der Langstrasse gibt es noch kleine, persönlich geführte Geschäfte.

Aber ein Hiltl oder Coop bringen doch gerade diese Quartierlädeli in Gefahr?
Ich glaube nicht, dass wir mit Coop oder Migros verglichen werden können. Wir sind immer noch ein Familienbetrieb, persönlich und inhabergeführt, mit rund 300 Mitarbeitern. Aber wir werden trotzdem immer im Zuge mit der Gentrifizierung genannt. Ich möchte unbedingt, dass die kleinen Lädeli bestehen bleiben, und gleichzeitig soll sich Zürich weiterentwickeln.

Und wie wird sich die Gastro­nomie in den nächsten 30 Jahren weiterentwickeln?
Man kann heute alles online kaufen, aber in der Gastronomie geht sehr vieles über Emotionen. Die Atmosphäre im Restaurant kann man nicht online herbeamen. Ich habe Mühe damit, wenn alles nur noch geliefert werden soll. Ich weiss, dass es ein Trend ist – aber ich bin mir nicht sicher, ob er sich auch in der Gastronomie durchsetzen wird.

Was essen wir in 30 Jahren?
Es gibt Leute, die sagen, Fleisch essen wird wie rauchen sein. Es kommt sehr drauf an, wo man lebt. Je aufgeklärter und verwöhnter die Gesellschaft, desto mehr Gedanken kann sie sich ums Essen machen. Das ist ein Luxus. Ich finde das schön, und dafür müssen wir sehr dankbar sein. Aber man muss es nicht übertreiben. Essen wird immer emotional bleiben, zusammen an einem Tisch sitzen. So war schon das Abendmahl.

Kritiker sagen, bei Hiltl und Tibits schmecke alles gleich. ­Alles ein bisschen nach Curry.
Natürlich haben wir einen starken Einfluss von meiner Grossmutter.

Aus Stuttgart?
Nein, meine andere Grossmutter reiste 1951 als Delegierte der Schweiz zum Welt-Vegetarier-Kongress nach Indien. Zurück kam sie mit Gewürzen und Rezepten. Mein Onkel, der damalige Küchenchef, sagte: «Dieses ausländische Zeug koche ich hier nicht.»

Und wie kamen die indischen ­Gerichte dann zu den Gästen?
Sie kochte in ihrer Privatwohnung oberhalb vom Restaurant und servierte es am nächsten Tag den Gästen. Die vegetarische Küche ist ja nicht sonderlich von der Schweiz inspiriert. Die Schweiz ist keine Food-Nation im Gegensatz zu Thailand oder Italien. Deshalb lassen wir uns international inspirieren.

Deswegen schmeckt alles gleich.
Diesen Hinweis nehme ich gerne auf. Im Haus Hiltl bieten wir über 100 verschiedene hausgemachte Spezialitäten, das ist eine Riesenvielfalt. Man muss ja nicht immer das Gleiche schöpfen.

Gastronom und Clubbesitzer

Er steht für die ­vegetarische Küche in der Schweiz. Rolf Hiltl (52) führt in vierter Generation das Restaurant seines Urgross­vaters Ambrosius Hiltl. Rolf Hiltl ­absolvierte eine Kochlehre im ­Zürcher Grand Hotel Dolder. Nach Auslandsaufenthalten stieg er in den ­Betrieb ein. Vege­tarisches Essen wird immer beliebter, das Hiltl moderner. ­Seither expandiert er. Bei Tibits (elf ­Filialen in der Schweiz und in London) ist Hiltl zu 50 Prozent beteiligt. Nach der Perle (Club in der Lang­strasse) wird er bald noch ­einen im Hiltl in der Sihlpost eröffnen. Der Zürcher ist ­verheiratet und hat drei Kinder im Alter von 22, 18 und 15.

Er steht für die ­vegetarische Küche in der Schweiz. Rolf Hiltl (52) führt in vierter Generation das Restaurant seines Urgross­vaters Ambrosius Hiltl. Rolf Hiltl ­absolvierte eine Kochlehre im ­Zürcher Grand Hotel Dolder. Nach Auslandsaufenthalten stieg er in den ­Betrieb ein. Vege­tarisches Essen wird immer beliebter, das Hiltl moderner. ­Seither expandiert er. Bei Tibits (elf ­Filialen in der Schweiz und in London) ist Hiltl zu 50 Prozent beteiligt. Nach der Perle (Club in der Lang­strasse) wird er bald noch ­einen im Hiltl in der Sihlpost eröffnen. Der Zürcher ist ­verheiratet und hat drei Kinder im Alter von 22, 18 und 15.

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