Vor meiner ersten Begegnung mit Tina Turner kannte ich nur ihre Stimme – sonst wusste ich nichts von ihr. Dann aber erlebte ich sie auf der Leinwand. Das war 1993. Und ich sah das moderne Märchen von der blutjungen Frau aus ärmlichen Verhältnissen, die sich mit endloser Disziplin und unerschütterlichem Glauben aus Jahren des Missbrauchs befreit. Die sich trotz aller seelischen Wunden bis ganz nach oben durchkämpft. Und zu der Tina Turner wurde, die wir bewundern. Die wir nicht nur wegen ihrer Musik weiter verehren, auch wenn sie uns jetzt im Alter von 83 Jahren verlassen hat.
Zu der Zeit, als «Tina – What's Love Got to Do with It?» in die Kinos kommt, ist sie bereits ein Weltstar, eine der beliebtesten und erfolgreichsten Sängerinnen der Pop-Geschichte. Der Film zeigt die Ehehölle, durch die Tina mit ihrem Ehemann Ike Turner (1931–2007) gegangen ist – und die schon in der Hochzeitsnacht beginnt: Nach einer lieblosen Zeremonie schleppt Ike seine Braut in Tijuana (Mexiko) in ein Bordell. Dort muss sie sich eine Sexshow ansehen. Horror statt Märchen. Die damals 22-Jährige hatte von einer Hochzeit in Weiss geträumt, mit Gästen und Champagner.
«Die Erfahrung war so verstörend, dass ich sie unterdrückt, ausradiert und ein anderes Szenario erfunden habe, die Fantasie von einer romantischen Entführung», gestand sie vor wenigen Jahren in einem Interview. Es war der Anfang einer toxischen Ehe voller Gewalt. Sie dauerte 16 Jahre – so lang hielt die Sängerin Beleidigungen, Grausamkeit und körperliche Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen aus: Sogar mit gebrochenem Kiefer sang und tanzte sie noch auf der Bühne. Geplatzte Lippen und zugeschwollene Augen überdeckte sie mit Schminke, ihre psychischen Qualen unterdrückte sie: «Ike war gewalttätig und böse, jeden Tag, jeden Moment.»
Gospels gaben ihr Kraft
Der Film bewegte mich mehr als jeder andere, den ich bis dahin gesehen hatte: Wie kann eine Frau solche Erlebnisse so lange aushalten? Dafür muss man zurück an den Anfang, in die Kindheit der kleinen Anna Mae Bullock, aufgewachsen in Nutbush, im US-Bundesstaat Tennessee. Sie war das dritte Kind einer Pastorenfamilie aus den Südstaaten, wo es noch Rassentrennung gab und Schwarze als Menschen zweiter Klasse galten – ein Umfeld von Angst und Gewalt. Ihr Vater schlug die Mutter, die Mutter schlug ihre Kleinste, die ihr viel zu lebhaft war – bis sie die Familie und ihre elfjährige Tochter verlässt. Ihr Glück und neue Kraft fand die kleine Anna Mae im Kirchenchor beim Singen von Gospels, dem einzigen Ort, an dem sie ihre Energie und ihr Talent frei entfalten darf.
Über ihre Kindheit in Nutbush sagte sie: «Ich bin schon tanzend und singend auf die Welt gekommen. Ich bin für das Drama geboren, meine Haare fliegen und alles im gleichen Augenblick geschehen zu lassen.» Sie weiss aber auch, was sie nicht will: wie alle andern für einen Hungerlohn in glühender Hitze Baumwolle pflücken. Mit 16 Jahren flieht sie zu ihrer Schwester in St. Louis, der Hauptstadt von Missouri. Dort tritt sie 1958 zum ersten Mal mit Ike Turner und seiner Band Kings of Rhythm als Backgroundsängerin vors Mikrofon. Er entdeckt ihr Talent, nennt sie Tina, fördert und formt sie zur Leadsängerin. Doch je berühmter seine Frau wird, desto eifersüchtiger und gewalttätiger behandelt er sie.
Vom Überleben ins zweite Leben
Zehn Jahre später ist der Tiefpunkt erreicht. Tina versucht, sich mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Sie überlebt – damit beginnt die Wende. Wie als kleines Mädchen in der Kirche schöpft sie aus der Spiritualität erneut Kraft. Schon früher hatte sie sich die Karten legen lassen, nun findet sie dank einer Freundin zum Buddhismus. Sie beginnt, jeden Tag zu beten und Mantras zu singen. Sie wird stabiler, selbstbewusster, fängt an, sich zu wehren. Als Ike sie 1976 auf dem Weg zu einem Konzert in Dallas blutig prügelt, hat sie genug. Tina wartet, bis er einschläft. Dann verlässt sie ihren Mann. Mit 36 Cent in der Tasche. In einem Hotel bittet sie um ein Zimmer – und verspricht, den Preis für das Zimmer eines Tages zurückzuzahlen. Die Szene wird zur Legende.
Um die Scheidung möglichst schnell hinter sich zu bringen, gibt Tina alle finanziellen Ansprüche auf, nur ihren neuen Namen behält sie. Mit 37 Jahren riskiert sie alles, steht mit nichts da. Eine schwarze, alleinerziehende Mutter mit Schulden, weil ihr Ex-Mann sie wegen ausgefallener Konzerte auf Schadenersatz verklagt. Im Nachhinein hat sie alles richtig gemacht. Aber das konnte sie damals noch nicht wissen. Sie gibt nicht auf, tritt in Clubs und bei Werbeveranstaltungen auf, zahlt mit dem Putzen der Zimmer für Gratisunterkünfte, bis der australische Musikmanager Roger Davies sie nach drei Jahren in Armut entdeckt.
Sie gesteht ihm, dass sie so gross wie die Rolling Stones werden will – und er überzeugt sie, die weisse Schnulze «What’s Love Got to Do With It?» zu singen, die sie eigentlich nicht mag. Es wird ihr Durchbruch. Sie ist 44 Jahre alt, als sie es mit dem Album «Private Dancer» an die Spitze der Hitparaden schafft. Später sagt sie, für sie sei es kein Comeback gewesen, sondern ihr Debüt: Sie füllt schon bald riesige Arenen, 1988 singt sie im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro (Brasilien) vor 188'000 Zuschauern: ein Rekord, der bis heute unerreicht ist.
Die Geschichte einer Selbstermächtigung
Selbstermächtigung ist etwas, was Tina vorlebte, bevor es solche Begriffe überhaupt gab. Sie tanzte im Ledermini auf Zehn-Zentimeter-Stilettos, bis sie 70 war. Mit ihren sexy Bühnenoutfits machte sie sich nicht zum Lustobjekt, sondern stilisierte sich zur Rock-Ikone mit den berühmtesten Beinen der Musikgeschichte. Tina, die sich einmal dazu bekannte, dass Sex in ihrem Leben «keine Priorität» hatte, nennt in ihrer Biografie praktische Gründe für die Wahl ihrer Bühnenoutfits: «Netzstrumpfhosen haben nicht so oft Laufmaschen wie normale Strumpfhosen. In einem kurzen Rock tanzt es sich besser, ausserdem kaschiert er meinen kurzen Oberkörper. Auf Leder sieht man weder Schweiss noch Schmutz, und Leder wirft keine Falten.»
Als Tina 1981 im «People»-Magazin zum ersten Mal über die Missbrauchserfahrungen spricht, gehört sie zu den Ersten, die das Thema häusliche Gewalt an die Öffentlichkeit bringen. Dass sie damit unzähligen betroffene Frauen den Weg ebnete, war ihr vielleicht gar nicht bewusst. Sie wollte ihre tragische Geschichte eigentlich nur einmal erzählen, um dann für immer damit abzuschliessen. Als aus ihrer Biografie «I, Tina» der Spielfilm geworden war, den ich vor 30 Jahren sah, verzichtete sie darauf, ihn jemals anzuschauen.
Neue Liebe an der Goldküste
Lieber schlug sie ein neues Kapitel auf: Statt sich vor ihren Erfahrungen in die Verbitterung zu flüchten, öffnet sie noch einmal ihr Herz: Als sie 1984 dem heute 67-jährigen deutschen Musikmanager Erwin Bach am Flughafen begegnet, ist es Liebe auf den ersten Blick. In ihrem Buch «Happiness» beschreibt sie, wie sie ihre Angst vor Ablehnung abschüttelte, auf ihr Herz hörte und den ersten Schritt machte: «So führte diese schlichte erste Begegnung zu einer langen, wunderschönen Beziehung – und meiner einzigen wahren Ehe.»
Dass ihr zweiter Ehemann 16 Jahre jünger ist, spielte für sie keine Rolle: «Ich war eine freie Frau und entschied mich für ihn.» Seine Heiratsanträge lehnte sie immer wieder ab. Doch im Juli 2013 gab sie ihm doch noch das Jawort – in einem schwarzen Kleid. Ihre 200 Gäste aber trugen Weiss und der Champagner floss, wie sie es sich schon immer gewünscht hatte. Sie hat es nie bereut: Erwin Bach ist ein Mann, der im Hintergrund bleibt, wenn sie im Rampenlicht steht, sich aber schützend vor sie stellt, wenn sie ihn braucht. Nur drei Wochen nach der Hochzeitsfeier erlitt sie einen Schlaganfall, drei Jahre später erkrankte sie an Darmkrebs – ihr Mann war stets an ihrer Seite. Als ihre Nieren versagten, spendete er Tina eine seiner Nieren – und rettete damit ihr Leben.
Zum zweiten Mal begegnete mir Tina Turner bei einem Privatkonzert an der Zürcher Goldküste. Nicht sie stand auf der Bühne, sondern eine Nonne aus Tibet. Der Weltstar sass mitten im Publikum und lauschte mit stillem Lächeln den buddhistischen Mantra-Gesängen. Mit ihren eigenen Songs und Dokumentationen hinterliess sie ihren Fans viel Privates – genoss aber auch ihre Privatsphäre in Küsnacht am Zürichsee.
Der Wegzug aus den USA und die Aufgabe ihrer amerikanischen Nationalität für den Schweizer Pass sei ihr nie schwergefallen: «In Europa bin ich nicht wie eine Schwarze behandelt worden, sondern wie ein Star. Ich wurde mit offenen Armen empfangen.»