Wie viel darf der Schutz der Bergdörfer kosten?
Extremwetter stellt Schweizer Zusammenhalt auf die Probe

Während in den Bergen die Aufräumarbeiten laufen, wird im Flachland diskutiert, ob gefährdete Alpendörfer aufgegeben werden müssten. Forscherin Karin Ingold warnt: Der Schutz in den Bergen sei im Interesse des ganzen Landes.
Publiziert: 07.07.2024 um 00:31 Uhr
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Aktualisiert: 07.07.2024 um 11:24 Uhr
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Gabriele Dazio (r.), Gemeindepräsident von Lavizzara, und Wanda Dadò, Gemeindepräsidentin von Cevio, versprechen ihre Dörfer schnell wieder aufzubauen.
Foto: keystone-sda.ch
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Lino SchaerenRedaktor

Die traurige Bilanz nach den Unwettern von letztem Wochenende: acht Tote, sechs Vermisste, zerstörte Siedlungen und Existenzen. Viele Einheimische fragen sich, wie es mit ihnen weitergehen soll. Für das Wochenende wurden bereits neue Unwetter gemeldet.

Während in den Bergen Aufräumarbeiten laufen, wird im Flachland bereits laut darüber debattiert, ob die Schweiz wegen der zunehmenden extremen Wetterereignisse einzelne exponierte Dörfer oder ganze Täler aufgeben sollte. Betroffene reagierten empört. Die Diskussion sei egoistisch, sagte etwa der Gemeindepräsident von Lavizzara TI.

Das Lavizzaratal wurde von den Unwettern besonders stark getroffen, mindestens drei Menschen starben beim Erdrutsch. Man werde alles dafür tun, das Dorf wieder aufzubauen, sagte der Gemeindepräsident: «Wir haben das Recht, hier zu leben und unsere Kinder grosszuziehen.»

Umsiedlungen unausweichlich

Fragt sich, zu welchem Preis. Die Berggebiete sind von den Folgen der Klimaerwärmung besonders betroffen. Permafrost schwindet, Gletscher schmelzen, Felsmassiv bröckelt, Hänge rutschen. Die massive Ausbreitung der Siedlungen auch in abgelegenen Gebieten wird zur Hypothek. Weiler, die bisher als sicher galten, befinden sich plötzlich in Gefahrenzonen.

Der Weltklimarat geht davon aus, dass mit der Zunahme von Naturgefahren in Bergregionen an einzelnen Orten Umsiedlungen unausweichlich werden. In der Schweiz ist diese Option schon Realität. Angewendet wurden Zwangsumsiedlungen bisher aber selten.

In Weggis LU wurden Häuser wegen Steinschlaggefahr abgerissen, in Guttannen BE wegen eines Murgangs. Im Tessin musste vor wenigen Jahren sogar der Eishockey-Kultverein Ambri Piotta sein Stadion neu bauen, weil die Arena am alten Standort in der roten Gefahrenzone lag: Lawinengefahr!

Wohnen in Gefahrenzonen vermeiden

In Zukunft kommen solche Massnahmen wohl häufiger zum Einsatz. Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) hielt bereits 2016 fest, dass Umsiedlungen wegen der immer besseren Kenntnisse der gefährdeten Orte und des Klimawandels vermehrt ins Spiel gebracht werden dürften. Die Behörden wollen stärker auf risikobasierte Raumplanung statt auf kostspielige Schutzbauten zur Gefahrenabwehr setzen. Das heisst: Auf die intensive Nutzung gefährdeter Gebiete soll, wenn möglich, verzichtet werden. Das kann beispielsweise mit Bauverboten, Auszonungen oder Umsiedlungen erreicht werden.

Die Frage nach dem Umgang mit dem Alpenraum birgt deshalb so viel gesellschaftlichen Zündstoff, weil sie den Zusammenhalt der Schweiz im Umgang mit den Folgen des Klimawandels verhandelt. Die Debatte über Bergdörfer ist weit mehr als eine reine Kosten-Nutzen-Analyse. Es geht um Heimat, Identität und verfassungsmässig garantierte persönliche Freiheit. Auch um Föderalismus und die zumutbaren Kosten für die Allgemeinheit, die über den Finanzausgleich bereits viel in die strukturschwachen Bergkantone investiert.

Naturgefahren in Finanzausgleich aufnehmen?

Karin Ingold (46) sagt, es sei dringend nötig, dass sich die Schweiz intensiver mit den Folgen der klimatischen Veränderungen befasst. Ingold ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Bern und forscht zu Hochwasserschutz und extremen Wetterereignissen. Die Debatte isoliert über Alpentäler zu führen, sei nicht sinnvoll. «Von der Zunahme extremer Wetterereignisse werden in der Schweiz alle betroffen sein.» Die Landwirtschaft von Trockenheit, das Berggebiet und das Flachland von Hochwasser, die versiegelten Städte von Hitzeperioden.

In der kleinräumigen Schweiz haben Ereignisse wie ein Murgang oft Einfluss weit über die betroffene Region hinaus. Das zeigte sich vor zwei Wochen in Lostallo GR, als die San-Bernardino-Route wegen Unwetterschäden für zwei Wochen gesperrt werden musste. Oder im Unterwallis, wo über die Rhone verschmutztes Wasser in den Genfersee gelangte, weil Kläranlagen ausgefallen sind. Was in den Bergen gegen Naturgefahren gemacht wird, sollte also auch in den Städten und auf dem Land interessieren, findet Ingold.

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Die Politikwissenschaftlerin fordert deshalb eine noch grössere innerschweizerische Solidarität mit jenen Regionen, die in Zukunft besonders stark von Schäden durch Naturgefahren betroffen sein werden: «Der kantonale Finanzausgleich sollte allenfalls um Naturgefahren ergänzt werden.»

Grosse Anteilnahme zeigt derweil die Schweizer Bevölkerung mit den Opfern der Unwetter der letzten beiden Wochen. Bei der Glückskette sind seit Montag 6,2 Millionen Franken an Spenden eingegangen.

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