Pierin Vincenz (65) verkehrte in Rotlicht-Bars und -Clubs. Ständig. Bezahlt hat er mit der Geschäftskreditkarte. Ab Oktober 2012 legte der Raiffeisen-Chef seine Spesenabrechnungen Verwaltungsratspräsident Johannes Rüegg-Stürm (60) zur Kontrolle vor. Der segnete alles ab. Nun ist es so, dass bei Sex-Etablissements selten «Puff» auf der Kreditkartenabrechnung steht, sondern wie beim Zürcher Stripteaselokal King's Club beispielsweise «Börse-Restaurationsbetriebe».
Gemäss den von der «NZZ am Sonntag» veröffentlichten Anhörungsprotokollen wird Rüegg-Stürm gefragt, ob er nicht gewusst habe, dass es sich bei «Börse-Restaurationsbetrieben» um einen Stripclub handelte. Seine Antwort: «Das höre ich zum ersten Mal.» Rüegg-Stürm fand allerdings auch einen Besuch im Club Velvet in Ordnung, dort stand «Cabaret-Dancing Le Vel» auf der Kreditkartenabrechnung: 2600 Franken.
Vincenz vermerkte selten, wofür er das Geld ausgegeben hatte. Hin und wieder schon. Und siehe da: Es waren «Nachtessen» mit Geschäftspartnern. Manchmal kam noch «Ausgang» dazu. Dann kostete so ein Nachtessen schon mal 4995 Franken. «Beziehungspflege» nennt Vincenz das. Gepflegt hat er die Beziehungen in Clubs von St. Gallen über Aarau bis Genf. Ein Stripclub ist kein Bordell. Sex kaufen kann man dort trotzdem fast immer. Entweder in Zimmern oberhalb des Clubs oder in der eigenen Hotelsuite – was Vincenz tat.
Verbreitet unter Bankern
Die dienstlichen Rotlichtmilieu-Ausflüge des Raiffeisen-CEO sind in seinem Prozess ein Nebenaspekt. Aber einer, über den es sich gut schimpfen lässt. Aus Wut (Was erlaubt sich der?!) oder aus Neid (Warum darf ich das nicht?!).
Johannes Rüegg-Stürm mag es abstreiten – die Spesenabrechnungen erwecken dennoch den Eindruck: Bei Raiffeisen störte es niemanden, dass der Chef auf Geschäftskosten im Milieu verkehrte. Abgesehen von der Sache mit den Spesen, ist es im Bankenmilieu offenbar nicht unüblich, Puffs und zugehörige Bars oder Restaurants zu besuchen. Nach Feierabend, für Geschäftsessen. Abtauchen in die Welt, in der Frauen nur eine Rolle haben – den Männern zu Diensten zu sein. Das scheint Bankern im Anzug zu behagen.
Aber auch Politikern, Journalisten, Studenten, Sozialarbeitern, Juristen und vielen, vielen anderen. Denn wenn es eine gesicherte Erkenntnis zum Wesen des Freiers gibt, dann diese: Sie stammen aus allen sozialen Schichten.
Bei den Frauen ist das nicht so. Die überwiegende Mehrheit der im Milieu Beschäftigten sind Migrantinnen, zum Grossteil aus Rumänien. Also einem der ärmsten Länder Europas. Die Frauen tun es, um zu überleben oder für Männer, die vorgeben, sie zu lieben – in Wahrheit aber ihren Körper ausbeuten: sogenannte Loverboy-Zuhälter.
Eine Studie der Universität Zürich aus dem Jahr 2009 zeigt, dass der Anteil der psychischen Erkrankungen bei Frauen im Rotlichtmilieu viermal höher ist als bei der restlichen weiblichen Bevölkerung. Verbreitet sind Depressionen, Angst- und posttraumatische Belastungsstörungen. Womit das zusammenhängt? Mit der Gewalt, die diese Frauen erleben, wie die Studie resümiert.
«Respektiert uns!»
Die Öffentlichkeit betrachtet die Arbeit im Rotlichtmilieu überwiegend als normale Tätigkeit und nennt es Sexarbeit. Profitieren davon tun die Freier. Über das, was die Mehrheit der Frauen im Milieu sagt, hört man hinweg – sie sagen: «Das ist keine normale Arbeit.»
Eine heute 19-jährige Deutsche, die 2020 auch in Zürich anschaffte, wendet sich mit einer Bitte an die Gesellschaft: «Urteilt nicht und sagt, diese Frauen machen das freiwillig und selbständig. Es ist nicht so. Hört endlich auf, irgendwelche Gerüchte in die Welt zu setzen. Respektiert uns!»
Pierin Vincenz begründet seine Ausflüge in Stripclubs übrigens damit, er sei nicht «prüde».