Nein, heilig sei Pierin Vincenz natürlich nicht, schrieb der Solothurner Ständerat Pirmin Bischof, das könne er ja als Lebender gar nicht sein. «Und doch: Was die Heiligen für die katholische Kirche bedeuten, ist Pierin Vincenz bis zu einem gewissen Grade für die Schweizer Finanzbranche.»
Pirmin Bischof ist nicht der Einzige, auf den frühere Äusserungen heute bleischwer zurückfallen. Die Heiligsprechung des Pierin Vincenz findet sich in einem «Dank- und Denkbuch», das die Raiffeisenbank 2015 zu dessen Abschied als ihr CEO veröffentlichte. Drei Nationalräte und nicht weniger als sieben Ständerate überboten einander mit Lobeshymnen auf diesen «Bergler und politischen Banker». Mit Johann Schneider-Ammann reihte sich auch ein Mitglied der Landesregierung unter die Danker und Denker.
Nach der Finanzkrise 2008 war Pierin Vincenz zum weissen Ritter der Geldwelt aufgestiegen. Er inszenierte sich als ehrlicher Makler, als Gegenfigur zu den raffgierigen Gamblern vom Paradeplatz. Dieser Hokuspokus ist inzwischen aufgeflogen: Kommende Woche muss sich der einstige Manager für eine Reihe von Delikten vor Gericht verantworten – Veruntreuung, ungetreue Geschäftsbesorgung, gewerbsmässiger Betrug, Urkundenfälschung. Für den Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung, ein Unschuldslamm allerdings ist er in jedem Fall nicht.
Aber geht es in dieser Affäre lediglich um die Personalie Vincenz? Oder läuft grundsätzlich etwas falsch, wenn ein solcher Blender als Heiliger verehrt wird?
Mehr zum Raiffeisen-Prozess
Mariana Mazzucato ist Ökonomieprofessorin am University College London. In ihrem Buch «Wie kommt der Wert in die Welt?» beschreibt sie den Aufstieg der Finanzwirtschaft von einer Hilfsdisziplin zur Leitindustrie. Noch bis in die 1970er-Jahre wurden Wirtschaftszweige im Wesentlichen nur dann als produktiv betrachtet, wenn sie reale Dinge schufen. Der Finanzsektor dagegen galt als Verteiler von Wohlstand, nicht als dessen Schöpfer. Der politische Druck der Banken führte jedoch zu einem Umdenken: Anfang der 1990er-Jahre wurden in den USA die Erträge aus dem Kredit- und Einlagengeschäft neu als Wertschöpfung deklariert und bei der Berechnung des Bruttoinlandprodukts (BIP) berücksichtigt. Die EU und die Schweiz zogen nach.
Bekanntlich ist die Schweiz schon lange ein Ort der Banken. Bloss wurden sie auch hierzulande die längste Zeit volkswirtschaftlich als weitgehend unproduktiv angesehen. Im Jahr 1980 lag ihr Anteil am BIP gerade einmal bei vier Prozent. Dass ihre Tätigkeit plötzlich als wertschöpfend galt, war die Legitimation für die weitgehende Deregulierung des Finanzbereichs: Wenn die Banken schon Werte schufen, sollten sie das auch ungehindert tun dürfen. Zugleich beeinflusste diese Umwertung die Selbst- und Aussenwahrnehmung der Banker: Statt mausgrauer Buchhalter waren sie jetzt kreative Wertschöpfer – oder eben von der Politik hofierte Heilige.
In den kommenden Tagen richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Vincenz-Prozess in Zürich. Doch wie meine Kollegin Dana Liechti im aktuellen SonntagsBlick berichtet, spielt sich an zahlreichen anderen Orten ebenfalls Dramatisches ab. Omikron ist nicht zuletzt für die Kindertagesstätten eine Herausforderung: Die Kleinsten sind nicht geimpft, Masken tragen können sie nicht. Dementsprechend hoch ist die Virenlast in den Kitas, mithin die Belastung für die Betreuenden.
Dabei werden die Kita-Mitarbeiterinnen und ihre wenigen männlichen Kollegen bereits ohne Corona über Gebühr beansprucht. Praktisch überall hat man in den letzten Jahren die Kindergruppen vergrössert, ohne dass genügend neues, gut ausgebildetes Personal eingestellt wurde. Kommt hinzu: Obwohl die Kitas für das Funktionieren unseres Landes unentbehrlich sind, werden die Angestellten miserabel entlöhnt. Anders als die der Banker findet ihre Arbeit offiziell kaum Wertschätzung.
Ob Pierin Vincenz nun verurteilt wird oder nicht: Solange die Strukturen sind, wie sie heute sind, bleibt vieles faul im Staate Schweiz.