Anzügliche Kommentare über Kleidungsstücke, unangemessene Gesten oder sogar körperliche Übergriffe: Sexuelle Belästigung ist ein Phänomen, dem Frauen auf allen Karrierestufen und in jeder Branche begegnen.
Eine Befragung des Nationalfonds ergab, dass sich mindestens ein Drittel aller Frauen in der Schweiz schon einmal «sexuell belästigt gefühlt hat» – obwohl Unternehmen ihr Engagement gegen die Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz intensiviert haben. Julia Nentwich, Titularprofessorin am Lehrstuhl für Organisationspsychologie der Universität St. Gallen, spricht von einem systemischen Problem: «Die Arbeitswelt wurde von Männern für Männer erfunden. Die Frau ist in vielen Fällen nur Objekt. Das ist bis heute so geblieben. Anzügliche Sprüche gegenüber Frauen dienen dieser Art von Männlichkeit.»
Sieben Tage die Woche
Besonders häufig ist sexistisches Verhalten in der Finanzwelt zu beobachten. Das «heroische Bild des Bankers», wie es Nentwich nennt, habe sich kaum verändert. «Er führt mit harter Hand, ist sehr machtbewusst, fast unfehlbar, arbeitet 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.»
Dabei bleiben die vermeintlichen Helden am liebsten unter sich. «Von diesen Cliquen, die ihre Deals in Cabarets einfädeln, sind Frauen ausgeschlossen», sagt Nentwich. «Lehnt sich ein männliches Mitglied gegen den herrschenden Wertekatalog auf, wird es diskreditiert.» Je elitärer die Gesellschaft, desto grösser sei die Angst der Männer, ihre Machtposition zu verlieren.
Auch um den ehemaligen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz scheint es eine solche «homogene Ingroup» gegeben zu haben, wie Nentwich meint.
Durchhalten und durchstehen?
Frauen versuchen, den Sexismus im Arbeitsalltag zu ignorieren, ja sogar damit zu leben, wie Befragungen zeigen. Durchhalten und durchstehen, so würden viele denken, sagt Nentwich. Doch das dürfte nicht sein.
Das Gleichstellungsgesetz von 1995 verbietet die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und verpflichtet Unternehmen, sexuelle Belästigung zu verhindern. Doch nur selten haben Übergriffe juristische Konsequenzen. Sofern die Fälle überhaupt zur Anzeige kommen, sind sie komplex und schwer zu beweisen.
Für Nentwich ist klar: Das Management müsse für eine angemessene Schulung von Führungskräften und Personen in Vertrauenspositionen sorgen. Und wenn es zu einem Vergehen kommt, brauche es harte Sanktionen.
Anlaufstellen
Immerhin zeigt ein Blick in die Branche, dass sich etwas bewegt. Die Grossbanken UBS und Credit Suisse haben in den letzten Jahren Anlaufstellen geschaffen, wo sich betroffene Frauen melden können. «Solche Fälle werden von speziell geschulten Teams untersucht und nachgewiesene Verstösse konsequent sanktioniert», sagt UBS-Sprecherin Eveline Müller Eichenberger. Obligatorische Schulungen beschäftigten sich präventiv damit, wie Belästigungen erkannt und vermieden werden können und welche Beschwerdemöglichkeiten existieren.
Raiffeisen stellt für betroffene Mitarbeiterinnen sogar eine kostenlose Beratung bei einem externen Unternehmen zur Verfügung, ebenso die Zürcher Kantonalbank.
Aber reicht das? «Es ist ein Anfang», sagt Psychologin Nentwich.