«Heute lebt er von einer AHV-Rente von 2000 Franken»
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BlickPunkt über Pierin Vincenz:«Heute lebt er von einer AHV-Rente von 2000 Franken»

BlickPunkt über den Prozess des Jahres
Vincenz’ verblüffender Auftritt

Normalerweise verschwinden Skandalbanker, auf ewig geächtet, in der Versenkung. Pierin Vincenz aber gelingt es sogar vor Gericht, viele Menschen für sich zu gewinnen.
Publiziert: 29.01.2022 um 00:45 Uhr
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Offenes Hemd, freundliches Lachen: Pierin Vincenz versteckte sich nicht und betrat das Volkshaus Zürich durch den Haupteingang.
Foto: keystone-sda.ch
Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe

Als Marcel Ospel kurz vor Weihnachten 2008 die noble Zürcher «Kronenhalle» besuchen wollte, meuterten die Gäste. Sie hämmerten so lange auf die Tische, bis der gefallene UBS-Chef das Lokal verliess. Zwar führte Ospel wie viele gescheiterte Top-Banker ansonsten weiterhin sein gewohntes Luxusleben, blieb aber bis zu seinem Tod gesellschaftlich geächtet. Obwohl er juristisch nie verurteilt worden war.

Die Prognose sei gewagt: Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz dürfte es besser gehen. Im Ansehen der Öffentlichkeit wird er wohl mit ein paar Dellen davonkommen – unabhängig vom Urteil des Gerichts.

Darauf deutete bereits sein unkonventioneller Auftritt Anfang der Woche hin. Normalerweise halten Angeklagte Aktenordner vors Gesicht oder betreten das Gericht durch den Hintereingang. Das wirkt dann schon wie ein Geständnis. Vincenz aber nahm den Haupteingang, gab sich jovial und gut gelaunt wie immer, posierte sogar für die Fotografen. Dass er seinen Mantel und den obersten Hemdknopf offen trug, sollte signalisieren: Ich habe nichts zu verbergen.

Während der Staatsanwalt sechs Jahre Gefängnis wegen Betrug und neun Millionen Franken Rückzahlung forderte, sagte Vincenz bereits am ersten Verhandlungstag, er habe nicht das Gefühl, etwas Kriminelles getan zu haben: «Ich fühle mich unschuldig.»

Jedem anderen wäre es peinlich, wenn seine – so der Staatsanwalt – «Tour de Suisse durchs Rotlichtmilieu» detailliert vor Gericht und vor der Öffentlichkeit geschildert würde. Vincenz meinte nur: «Ich bin halt nicht prüde.» Allen, die ihm Luxusreisen und weitere Spesenexzesse auf Kosten seiner Bank zur Last legten, antwortete er: «Ich habe 20 Jahre lang nicht unterschieden zwischen Geschäft und Ferien.»

Während Ospel und Co. die geballte Wut der Schweizerinnen und Schweizer zu spüren bekamen, fallen die Kommentare im Fall Vincenz häufig wohlwollend aus. «Er scheint eine coole Socke zu sein», schreibt ein Blick-Leser. Und ein weiterer: «Machen andere genauso. Das Leben ist kurz, also geniessen.»

In drei wesentlichen Punkten unterscheidet sich Vincenz von anderen gefallenen Bankenchefs:

– Vincenz hat seine Bank gross gemacht. Raiffeisen wurde unter ihm zur Nummer drei der Schweiz und erwirtschaftete Rekordgewinne. Die «Bilanz» schrieb bei seinem Abgang als CEO, er habe «in seiner Amtszeit eine beeindruckende Leistung hingelegt».

– Vincenz hat die kleinen Leute nie geschädigt. Weder hat er Kleinsparer in den Ruin getrieben, noch seine Bank an die Wand gefahren. Ebenso wenig hat er mitgeholfen, die Swissair zu grounden. Natürlich war es heuchlerisch, die Bosse der Grossbanken Abzocker zu schimpfen und heimlich selber abzusahnen. Doch viele Menschen haben eben lieber joviale Filous als abgehobene Bezüger von Millionenboni.

– Vincenz ist jetzt tatsächlich einer aus dem Volk. Zwar kassierte in seinen 16 Jahren als Raiffeisen-Chef total 40 Millionen Franken, doch sein Vermögen hat er inzwischen verspekuliert und verprasst. Heute ist seine einzige Einnahmequelle eine AHV-Rente von 2000 Franken.

Das macht ihn zwar nicht zu einem wie du und ich – aber er kommt dem sehr viel näher als andere Top-Banker. Volksnäher.

Jetzt müssen bloss noch die Richter entscheiden, ob er die nächsten Jahre seines Rentnerlebens in Freiheit oder in einer Gefängniszelle verbringen wird.

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