Hoch lebe der Notnagel!
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BlickPunkt:Hoch lebe der Notnagel!

BlickPunkt über den neuen CS-Präsidenten
Hoch lebe der Notnagel!

Der Nachfolger des geschassten CS-Präsidenten António Horta-Osório wird jetzt als «Notnagel» verspottet. Er sollte es als Kompliment betrachten: Verlegenheitskandidaten machen den Job oft besser als Superstars.
Publiziert: 22.01.2022 um 04:37 Uhr
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Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe.
Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe

Für António Horta-Osório bedeutete eine Blick-Titelgeschichte das Ende an der Spitze von Credit Suisse. Die Schlagzeile vom 9. Dezember 2021 lautete: «CS-Präsident flieht mit Privatjet aus Quarantäne.»

Der Top-Banker war aus London eingeflogen, und statt die damals obligatorischen zehn Tage in seiner Villa zu verbringen, hob er nach drei Tagen wieder ab – obwohl die Behörden sein Gesuch für eine Sonderbewilligung abgelehnt hatten.

Am Montag wurde Horta-Osório geschasst. Knall auf Fall übernimmt Axel Lehmann, ein grundsolider Ökonom. Der Stadtberner arbeitete jahrzehntelang bei der Zürich-Versicherung und bei der UBS, erst seit Oktober ist er Verwaltungsrat der Credit Suisse.

Lehmann stand zufällig gerade bereit. Was jetzt reihum zu hämischen Kommentaren führt. «Notnagel», schnöden die CH-Media-Zeitungen. Als «zweite Wahl» gilt er dem Fachblatt «Finanz und Wirtschaft». Der «Tages-Anzeiger» schreibt sogar von einer «doppelten Notlösung», was auf Konzernchef Thomas Gottstein zielt. Der stand ebenfalls gerade bereit. Damals musste Tidjane Thiam wegen eines Überwachungsskandals gehen.

Aber was sagt der Schmähbegriff «Notnagel» darüber, ob jemand den Anforderungen eines Jobs gewachsen ist oder nicht?

Die teuer im Ausland eingekauften Stars Thiam und Horta-Osório jedenfalls wurden als internationale Superstars eingestellt. Dann versagten sie komplett.

Immer wieder enttäuschen Top-Manager und Spitzenpolitiker, die alle für einen sicheren Wert hielten. Andreas Meyer kam als gefeierter Star von der Deutschen Bahn und steht heute im Ruf, eine Pannenbahn hinterlassen zu haben. Als mit Johann Schneider-Ammann ein Unternehmer Bundesrat wurde, jubelte die Wirtschaft – und war dann nur noch froh, als er ging.

Zugleich gibt es unzählige Beispiele von überraschend erfolgreichen «Notnägeln». Weil sein Vorgänger Oswald Grübel nach einem Milliardenbetrug zurücktrat, kam Sergio Ermotti zum CEO-Posten wie die Jungfrau zum Kind. Weil sein Vorgänger Philipp Hildebrand über Insider-Anlagen seiner Frau gestolpert war, wurde Thomas Jordan zum gefeierten Nationalbank-Chef. André Blattmann rutschte ganz nach oben, nachdem sein Vorgänger eine Ex-Freundin stalkte – er wurde zum charismatischsten und langjährigsten Armeechef, den die Schweiz je hatte. Nicht zu vergessen der deutsche Fussballtrainer Otto Rehhagel: Der wurde als «Otto Notnagel» verspottet, bis er als «King Otto» zur Legende emporstieg.

Dass die Grossbank Credit Suisse nach einer oberpeinlichen Serie von Milliardenverlusten, Überwachungsskandalen und Regelverstössen auf zwei unspektakuläre, aber grundsolide Schweizer an der Spitze setzt, erscheint alles andere als unvernünftig.

Wobei auch die Wahl eines Schweizers schiefgehen kann, wie der Prozess von nächster Woche gegen Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz zeigt: Die Staatsanwaltschaft wirft ihm in ihrer 360-seitigen Anklageschrift gewerbsmässigen Betrug, Veruntreuung und Urkundenfälschung vor. Dafür fordert sie eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren.

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