Vor einer Woche sprach ich mich an dieser Stelle für 2G aus – dass überall dort, wo heute ein Test genügt, neu nur noch Geimpfte und Genesene zugelassen sein sollten.
Mein Kommentar hat extrem viele Reaktionen ausgelöst, manche ebenso kritisch wie reflektiert. Ein Leser zum Beispiel schreibt: «Im Moment mache ich als Umgeimpfter jeden zweiten Tag einen Test, den ich selber bezahle. Mich, meine kleine Tochter und meine Frau in Zukunft einsperren zu wollen, kann nicht Ihr Ernst sein.» Aber auch viele Geimpfte fanden, 2G gehe zu weit.
Meine Überlegung war und ist: Wenn die Spitäler wieder am Anschlag und die Intensivstationen nahezu voll sind, werden zusätzliche Massnahmen unumgänglich. Da ist es das kleinere Übel, wenn sich jene 23 Prozent der über Zwölfjährigen einschränken, die bisher nicht geimpft sind, als wieder einmal die gesamte Bevölkerung.
Zumal es fast ausschliesslich Ungeimpfte sind, wegen denen die Intensivstationen überlaufen: Gemäss CH Media sind in St. Gallen rund 90 Prozent der Intensivpatienten ungeimpft, im Aargau waren es seit August 64 von 67!
Der Bundesrat hat mit seinem Massnahmenpaket gestern immerhin eine Tür für 2G geöffnet: Restaurants, Clubs oder Fitnesscenter haben die Wahl zwischen 3G mit Maskenpflicht und 2G ohne.
Nun soll der freie Markt entscheiden, welche Regel besser angenommen wird: Öffnung mit Einschränkungen auch für nicht immunisierte Getestete? Oder exklusiv für Geimpfte und Genesene (2G), dafür ohne Einschränkungen?
Die Pandemie nimmt ständig ungeahnte Wendungen, ähnlich sprunghaft entwickelt sich auch die öffentliche Meinung. Gemäss der jüngsten repräsentativen SonntagsBlick-Umfrage sind heute 63 Prozent für 2G, 53 Prozent befürworten sogar eine Impfpflicht. Das wäre noch vor kurzem unvorstellbar gewesen.
Nach der Abstimmung über das Covid-Gesetz vom Sonntag hofften viele, dass nach einem lauten, gehässigen, ganz und gar unschweizerischen Abstimmungskampf nun endlich Ruhe einkehrt.
Es war ein Trugschluss! Viel eher wird unser Land bis zum Ende der Pandemie immer wieder vor der Frage stehen, was jetzt zu tun ist.
Mit aller Kraft bekämpfen müssen wir nur jene, die bewusst Verschwörungstheorien, Fälschungsvorwürfe und sonstige Absurditäten verbreiten. Zwischen all denen jedoch, die ernsthaft um die bestmögliche Lösung ringen, sind Worte der Versöhnung wichtig – im Wissen darum, dass es keine eindeutige Wahrheit gibt und dass oft erst viel später feststeht, was richtig war und was falsch.
Da kann sich die Schweiz ausnahmsweise an Deutschland orientieren, wo Bundeskanzlerin Angela Merkel (67) am Donnerstag zu ihrem Abschied vom Amt sagte: «Ich möchte dazu ermutigen, auch zukünftig die Welt immer auch mit den Augen des anderen zu sehen, also auch die manchmal unbequemen und gegensätzlichen Perspektiven des Gegenübers wahrzunehmen, sich für den Ausgleich der Interessen einzusetzen.»