Nukleare Erpressung
Wie weit kann Putin gehen?

Wladimir Putin droht dem Westen mit dem «Atomschlagstock». Einsetzen werde er ihn aber nicht, sagt der russische Politwissenschaftler Igor Gretskiy in seinem Gastbeitrag.
Publiziert: 09.04.2022 um 21:07 Uhr
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Russland ist eine der mächtigsten Atommächte der Welt.
Foto: KEYSTONE/EPA/JIM LO SCALZO
Igor Gretskiy*

2011 sagte der amerikanische Botschafter in Russland, John Beyrle, in einem Interview mit einer russischen Zeitung: «Ein schwaches Russland ist der schlimmste Albtraum für die Vereinigten Staaten.» Diese Worte fassen die langfristige Strategie des Westens gegenüber dem Kreml im Kern zusammen. Alles dreht sich um die Frage der «strategischen Stabilität». Für die westlichen Eliten ging die grösste Gefahr immer davon aus, dass der Kreml die Kontrolle über seine eigenen Nuklearwaffen verliert. Als das Sowjetreich zu zerfallen begann, halfen sie darum Michail Gorbatschow auf jede erdenkliche Weise, die politische Situation unter Kontrolle zu halten.

Doch der Westen hat keine Antwort auf die Frage gefunden, was zu tun ist, wenn eine Atommacht mit ständigem Sitz im Uno-Sicherheitsrat zu zerbröckeln beginnt. Anders gesagt: Je schlechter es um Russland wirtschaftlich und politisch bestellt ist, desto bedrohlicher wirkt sein Atomwaffenarsenal. Der Kreml hat diese Angst immer skrupellos ausgenutzt. Er nutzte die ständige Androhung eines Atomkriegs dazu, beim Westen möglichst viel herauszuholen. Gorbatschow tat es, um trotz der totalen Niederlage im Kalten Krieg wenigstens sein eigenes Gesicht zu wahren. Der russische Präsident Boris Jelzin tat es, um sich in seinem Machtkampf gegen die Kommunisten die wirtschaftliche und politische Unterstützung aus dem Ausland zu sichern.

Russlands Nuklearstatus ist eine mächtige Waffe

Wladimir Putin hat diese Lektion seiner Vorgänger gelernt und zu seinem Vorteil genutzt. Er verstand, dass ihm Russlands Nuklearstatus in der internationalen Arena nahezu endlose Möglichkeiten eröffnet. Im Sommer 2014 lieferten sich ukrainische und russische Einheiten in der ostukrainischen Stadt Ilowajsk heftige Gefechte. Damals erwog die westliche Gemeinschaft, den Sanktionsdruck auf Moskau zu erhöhen – doch dann legte Putin seinen grössten aussenpolitischen Trumpf auf den Tisch. Er liess den Westen wissen, dass es besser sei, sich nicht mit Russland anzulegen, weil es «eine der mächtigsten Atommächte» der Welt sei. Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Als Reaktion auf die rechtswidrige Einverleibung der Krim, den Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges MH-17 und das Entfachen des Kriegs in der Ostukraine ergriff der Westen hauptsächlich symbolische Sanktionen. Selbst als Moskaus Verantwortung für Verbrechen wie den Giftanschlag auf Vater und Tochter Skripal 2018 oder die Explosion eines Munitionslagers im tschechischen Vrbetice 2014 eindeutig belegt werden konnte, bekundeten nicht alle westlichen Länder Solidarität. Viele zogen es vor, die bösartigen Aktivitäten des aggressiven Kreml schlicht zu ignorieren.

Kleptokratische Elite agiert zwar skrupellos, aber ist rational

Putin ist sich bewusst, dass die ältere Generation westlicher Politiker und Experten empfänglicher ist für seine Kriegsrhetorik. Nicht zuletzt, weil sie befürchten, dass die Konfrontation zwischen dem Westen und Russland die Welt an den Rand der nuklearen Vernichtung bringen wird, wie dies zu Zeiten des Kalten Kriegs der Fall war. Sie blicken nach Russland, sehen aber die gleiche UdSSR wie damals. Doch das Sowjetimperium war ein halbautarkes Regime, und die Nomenklatura-Partei hatte praktisch keine Verbindungen zur kapitalistischen Welt. Getrieben von der kommunistischen Ideologie, waren die sowjetischen Funktionäre viel anfälliger für gefährliche Abenteuer als die heutigen Bewohner des Kreml. Doch selbst während der Kubakrise 1962 wagte das Politbüro keinen Atomkrieg. Die aktuelle kleptokratische Elite agiert zwar skrupellos, ist freilich auch rationaler. Ihre Repräsentanten haben es geschafft, Wohnungen in New York und London zu erwerben. Sie schicken ihre Kinder zum Studium an die besten westlichen Universitäten und verbringen die Ferien lieber in ihren Villen an der Côte d'Azur und in Miami. Das unterscheidet die aktuelle Situation von jener des Kalten Kriegs. Putins Gefolgsleute sind weder Fanatiker noch Verrückte. Es ist unwahrscheinlich, dass sie mit ihren Drohungen gegen den Westen bis zum Ende gehen: Sie und ihre Familien haben noch immer viel zu verlieren.

Wie der Westen auf den «Atomschlagstock» reagiert

Die Eskalationsdrohung ist bis heute das wirksamste Instrument von Putins Aussenpolitik. Nachdem der russische Diktator einen umfassenden Krieg gegen die Ukraine entfesselt hat, erschreckt er die westlichen Regierungen regelmässig mit seinem «Atomschlagstock», um sie dazu zu bringen, die finanzielle und militärische Hilfe für die Ukraine einzuschränken. Und das funktioniert immer noch einwandfrei. So weigert sich Washington weiterhin, dabei zu helfen, die russische Lufthoheit in der Ukraine zu brechen. Und zögert immer noch, die Lieferung von Offensivwaffen an Kiew zu diskutieren. Stattdessen geht der Westen bei Sanktionen sehr vorsichtig vor und versucht, Russlands militärische Zerstörungskraft deutlich zu minimieren, ohne dabei die tragenden Strukturen von Putins politischem Regime zu beschädigen. In den meisten Fällen vermeiden die EU wie auch Washington, einen der verwundbarsten Punkte ins Visier zu nehmen: Vermögenswerte, die nicht nur Putins Verbündeten und Oligarchen, sondern auch deren Familienmitgliedern und Ex-Ehepartnern gehören. Dabei ist es kein Geheimnis, dass die Vermögen der russischen Eliten in den meisten Fällen oft unter anderen Namen registriert sind.

Auch die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes taktischer Atomwaffen in der Ukraine ist gering. Putin ist sich im Klaren darüber, dass dies nicht nur neue westliche Sanktionen zur Folge hätte. Vielmehr würde er auch die diplomatische Unterstützung Chinas, Indiens und anderer grossen Länder verlieren. Zweitens würde ein Atomschlag die Kluft zwischen der russischen Gesellschaft und der Eliten vertiefen. Es wäre unmöglich, einen solchen Schritt der Öffentlichkeit als letzten Ausweg zu präsentieren.

Putins Aussenpolitik basiert auf rationaler Kosten-Nutzen-Analyse

Putins Aussenpolitik war schon immer provokativ. Aber sie basiert im Wesentlichen auf einer rational kalkulierten Kosten-Nutzen-Analyse. Die Unfähigkeit des Westens, entschieden zu reagieren, empfindet der Kreml als Schwäche, und sie ermutigt ihn, seine Aktivitäten fortzusetzen. Umgekehrt können entschlossenes Handeln sowie die Fähigkeit, rote Linien zu ziehen, den Appetit des Diktators zügeln. Zum Beispiel haben Aussenminister Sergej Lawrow und seine Stellvertreter drei Wochen lang mit Angriffen auf westliche Waffenlieferungen gedroht – die Lieferungen werden gleichwohl fortgesetzt, und noch kein einziges russisches Geschoss hat westliche Konvois getroffen. Wenn Putin wüsste, dass der Einsatz taktischer Atomwaffen gegen die Ukraine – selbst auf abgelegenes, unbewohntes Gebiet – eine unmittelbare, koordinierte militärische Beteiligung des Westens an der Seite der Ukraine nach sich ziehen würde, dann würde dies seine Absichten, den «roten Knopf» zu drücken, erheblich verringern.

* Igor Gretskiy ist Professor an der St. Petersburger Staatlichen Universität, Department of Post-Soviet Studies. Seit Januar 2022 ist er Gastwissenschaftler am International Centre for Defence and Security in Tallinn, Estland.

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