Der US-amerikanische Präsident Joe Biden (79) warnte am Montag (Ortszeit) in Washington davor, dass die russische Armee einen Angriff mit «Massenvernichtungswaffen», also biologischen oder chemischen Waffen plant.
Moskau werde sich wahrscheinlich «zunehmend auf seine nukleare Abschreckung verlassen, um dem Westen ein Signal zu geben und Stärke zu demonstrieren», wenn der Krieg und seine Folgen Russland schwächen, warnte Generalleutnant Scott D. Berrier (59), Direktor des US-Verteidigungsnachrichtendienstes, bereits letzte Woche.
Im Augenmerk sind nun auch russische Mini-Atombomben. Diese sind viel weniger zerstörerisch als die Atombomben, mit denen beispielsweise im Kalten Krieg gedroht wurde, wie die «New York Times» schreibt. Das mag erstmal paradox klingen – kleinere Bomben als Stärke? Doch dahinter stecken einige Überlegungen.
Schwächere Atomwaffen brechen Tabus
Der internationale Wettlauf um kleinere Atomwaffen wird immer intensiver. Obwohl solche Bomben nach den Massstäben des Kalten Kriegs sehr viel weniger zerstörerisch sind, zeigen moderne Schätzungen von Experten, dass sie rund eine halbe Million Menschen töten oder verletzen könnten. Und das mit einer Kraft, die der Hälfte der Hiroshima-Bombe entspricht, die 1945 zum Einsatz kam. Damals kamen auf einen Schlag 100'000 Menschen ums Leben.
Da es keine Rüstungskontrollverträge für die kleineren Sprengköpfe gibt, können atomare Supermächte wie Russland so viele herstellen und einsetzen, wie sie wollen. Laut Hans M. Kristensen (60), Direktor des Nuclear Information Project bei der Federation of American Scientists, einer privaten Gruppe in Washington, verfügt Russland über etwa 2000 dieser Waffen.
Zudem untergraben diese Waffen das «Atomtabu» und würden Krisensituationen noch gefährlicher machen. Denn trotz ihrer weniger zerstörerischen Kraft nähren die kleineren Atombomben die Illusion von atomarer Kontrolle – doch ihr Einsatz könnte einen ausgewachsenen Atomkrieg heraufbeschwören.
Eine von Experten der US-Universität Princeton entwickelte Simulation beginnt zum Beispiel damit, dass Moskau einen nuklearen Warnschuss abgibt. Die Nato wiederum würde dann ebenfalls mit einer Atombombe antworten. Mit üblen Folgen: Der folgende Krieg würde in den ersten Stunden mehr als 90 Millionen Opfer fordern.
«Es geht nur um Psychologie – tödliche Psychologie», erklärt Franklin C. Miller (71), ein Nuklearexperte, der vor seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst im Jahr 2005 drei Jahrzehnte lang im Pentagon und im Weissen Haus tätig war. «Wenn Ihr Gegner glaubt, dass er auf dem Schlachtfeld im Vorteil ist, versuchen Sie ihn zu überzeugen, dass er sich irrt».
Iskander-M ist Herzstück der russischen Atom-Ausrüstung
Ein Kernstück des neuen Arsenals ist die Iskander-M, die 2005 erstmals eingesetzt wurde. Die mobile Abschussvorrichtung kann zwei Raketen abfeuern, mit einer Reichweite von etwa 483 Kilometern. Die Raketen können sowohl konventionelle als auch nukleare Sprengköpfe tragen. Russischen Angaben zufolge ist die kleinste nukleare Explosion dieser Raketen etwa ein Drittel so gross wie die der Hiroshima-Bombe.
Bevor die russische Armee in die Ukraine einmarschierte, zeigten Satellitenbilder, dass Moskau Iskander-Raketenbatterien in Weissrussland und im Osten des Landes auf russischem Gebiet stationiert hatte. Es gibt keine öffentlichen Daten darüber, ob Russland die Iskander-Raketen mit nuklearen Sprengköpfen bestückt hat.
Darum erwägt Putin den Griff zur Atombombe
Analysten weisen darauf hin, dass die russischen Truppen den Übergang vom konventionellen zum nuklearen Krieg seit langem geübt haben, insbesondere um nach Verlusten auf dem Schlachtfeld die Oberhand zu erlangen. Und sie fügen hinzu, dass das russische Militär, das über das grösste Atomwaffenarsenal der Welt verfügt und eine Vielzahl von Eskalationsoptionen erprobt hat, aus denen der russische Präsident Wladimir Putin (69) sicher wählen könnte.
«Die Chancen sind gering, aber sie steigen», sagt Ulrich Kühn, Nuklearexperte an der Universität Hamburg und der Carnegie Endowment for International Peace zur «New York Times». «Der Krieg läuft nicht gut für die Russen», stellt er fest, «und der Druck des Westens nimmt zu.» Putin könnte eine Waffe auf ein unbewohntes Gebiet statt auf Truppen abfeuern, so Kühn. «Es fühlt sich schrecklich an, über diese Dinge zu sprechen. Aber wir müssen in Betracht ziehen, dass dies eine Möglichkeit ist».
Einsatz von Atomwaffen im Falle einer «existenziellen Bedrohung»
In einem düsteren Szenario könnte der Kreml-Chef auf Atomwaffen zurückgreifen, wenn der Krieg in der Ukraine auf die benachbarten Nato-Staaten übergreift. Denn alle Nato-Mitglieder sind verpflichtet, sich gegenseitig zu verteidigen – möglicherweise mit Atomsprengköpfen.
Am Dienstag betonte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (54), dass Russland seine Atomwaffen nur im Fall einer «existenziellen Bedrohung» einsetzen wolle. «Wir haben ein Konzept für innere Sicherheit, das ist bekannt», so Peskow. Mann könne dort alle Gründe für den Einsatz von Nuklearwaffen nachlesen. Der Kreml-Sprecher antwortete damit auf die von der CNN-Journalistin Christiane Amanpour mit Nachdruck gestellte Frage, ob er «überzeugt oder zuversichtlich» sei, dass Putin im Konflikt mit der Ukraine keine Atombombe einsetzen werde. (chs)