Milena Moser über selbstauferlegte Herausforderungen
Die Challenge mit der Challenge

Ob ich sonntags spazieren gehe oder eine der Endlostreppen der Stadt bezwinge, ob ich Gemüse in Essig einlege oder mich in die kalten Wellen der Bay stürze – alles wird gleich zur Challenge deklariert.
Publiziert: 29.01.2024 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 27.01.2024 um 17:55 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt für Blick über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Seit drei Jahren gehen meine Freundin Theresa und ich jeden Sonntagmorgen zusammen spazieren. Nicht besonders weit und auch nicht besonders schnell. Dafür reden wir viel. Dieser Spaziergang ist uns eine liebgewordene Tradition – aber wenn es regnet oder wenn sich eine von uns beiden nicht ganz fit fühlt, dann lassen wir's auch mal bleiben. Wir nehmen das locker, doch andere reagieren verstört.

Unser Bekanntenkreis nimmt regen Anteil an unserem Ritual, allerdings sieht er es nicht als Ritual, sondern als Challenge. Eine Challenge hat Regeln, und die müssen eingehalten werden. Eine Challenge kann man nicht einfach unterbrechen, da muss man gleich wieder ganz von vorn anfangen.

Ständig werden uns Videos weitergeleitet: Frauen in unserem Alter, die sich allen denkbaren selbstauferlegten Herausforderungen stellen. Ob sie sportlicher, spiritueller oder kulinarischer Natur sind, sie alle unterliegen strengen Regeln und Bedingungen. Jeden Tag! Bei jedem Wetter! Jede einzelne Brücke, jede Treppe, jeder Hügel der Stadt! Alle Foodtrucks, alle Originalcocktails! Jede Woche ein Buch von einer lokalen Autorin! 

Ich schaue mir diese Filme mit einer Mischung aus Bewunderung und Unbehagen an. Die Vorstellung, dass man das Leben in geregelte Bahnen zwingen, dass man mit einer Challenge das Schicksal austricksen könnte, ist durchaus reizvoll. Abgesehen davon liebe ich Listen. Manchmal schreibe ich mir Dinge auf, die ich bereits erledigt habe, nur um sie abhaken zu können. Aber ich kenne mich nun schon zu lange und zu gut. Ich weiss, dass sich mein Leben grundsätzlich nicht an meine Pläne und Vorsätze hält. Und ich mag mich unterdessen schon zu gern, um mich vorsätzlich zum Scheitern aufzugleisen. 

An diesem Sonntag waren wir ziemlich weit an einen abgelegenen Strand gefahren, wo dicke See-Elefanten in der Sonne lagen und sich mit den Flossen Sand zuschaufelten. Auf dem Rückweg fuhren wir durch einen wahren Märchenwald und beschlossen spontan, noch mal anzuhalten und ein Stück weit in den Wald hineinzugehen. Der Parkplatz am Ausgangspunkt war überfüllt, Autos standen weit die Strasse hinauf. Rein zufällig hatten wir offenbar einen beliebten Wanderweg gefunden.

Vor uns ging ein junger Mann in voller Tarn-Montur, aber Gott sei Dank ohne Gewehr. Zwei Frauen schulterten Rucksäcke, die für mehrere Tage gedacht waren. Sie musterten unsere sandigen Turnschuhe leicht verächtlich. Im Wald trafen wir ein Mädchen, das mit seinem Vater einen ganzen Korb voller Pilze gesammelt hatte, sie sahen aus wie Eierschwämme, waren aber Candy Cap Mushrooms, also Zältlihut-Pilze, die getrocknet einen penetrant süssen Geruch verbreiten. «Du findest sie unter dem Huckleberry Tree», erklärte der Vater, und ich dachte, das klingt wie ein Countrysong.

Auf dem Rückweg kommen uns die beiden Frauen mit ihren Monsterrucksäcken entgegen. Sie mustern uns wiederum recht abfällig. «Das war aber ein kurzer Spaziergang!», sagt die eine und bleckt dazu die Zähne. Nicht einmal ich ewige Optimistin kann das als Lächeln interpretieren.

Die nächsten paar Meter legen wir in verdattertem Schweigen zurück. Dann bleiben wir stehen und drehen uns um. «Das ist keine Challenge!», rufen wir den sich zackig entfernenden Rucksäcken hinterher. Dann laufen wir kichernd wie zwei Schulmädchen zum Auto zurück. «Unser neues Motto», sagt Theresa: «Das Leben ist keine Challenge!»

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