Milena Moser über ihre Feiertagstradition
Was an diesem Abend heilig ist

Während ich diese Zeilen schreibe, weiss ich noch nicht, was ich an Heiligabend mache. Ich habe keine Feiertagstraditionen mehr. Oder eher, nur eine, die wichtigste: Unsere Tür bleibt offen.
Publiziert: 25.12.2023 um 09:40 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen» und ist vor kurzem erschienen.
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Kürzlich musste ich an mein erstes Weihnachtsfest in San Francisco denken, vor gut 25 Jahren. Und wie fremd mir damals alles war, zum Beispiel diese seltsame amerikanische Gewohnheit, den Baum schon Wochen im Voraus aufzustellen und zu dekorieren. Und sogar die Geschenke schon darunter auszubreiten, die dann von Kindern (und vermutlich auch Erwachsenen) neugierig hochgehoben, gewogen, geschüttelt wurden. Das leuchtete mir überhaupt nicht ein, wo blieb denn da der Überraschungseffekt? Da musste doch erst ein Glöcklein klingeln, eine stundenlang verschlossene Tür geöffnet werden, bevor man dann staunend vor dem glitzernden, funkelnden Baum stand, der vom Christkindlein eigenhändig dekoriert worden war, welches gleich auch die Geschenke gebracht hatte. Wie, der Samichlaus ... und durch den Kamin ...? Und was ist mit diesen Strümpfen?

«Tja, du bist halt nicht mehr in Kansas, Dorothy», sagte mein Vermieter dann immer, wenn ich ihm meine Verwirrung kundtat. Ich hiess nicht Dorothy, und ich kam aus der Schweiz, aber ich verstand schon, was er meinte. Obwohl ich mich ja für weltoffen und tolerant hielt, mit anderen Kulturen durchaus vertraut war. Doch dieses erste Weihnachtsfest in der Fremde machte mir bewusst, wie sehr ich das Eigene als das einzig Richtige annahm, als das «Normale».

Das zeigte sich auch am Nachmittag des 24. Dezembers, als wir zu unserer Empörung feststellen mussten, dass die Weihnachtsbäume bereits komplett ausverkauft waren. Nur ein struppiger Besen stand noch in einer Ecke, den wir dafür gratis mitnehmen durften. Dass wir ihn nicht mit richtigen Kerzen schmücken durften, trug noch zu unserer Befremdung bei. Natürlich war es trotzdem schön – ist es ja immer. 

Am nächsten Tag, am 25., klingelten unsere Vermieter bei uns. Sie waren auf dem Weg zu ihrer Familienfeier und luden uns kurzerhand ein, mit ihnen mitzukommen. «Seid ihr sicher?», fragten wir mehrmals nach. Weihnachten ist doch ein Familienfest, dachten wir, sprachen es aber nicht aus. 

Das kleine Haus platzte aus allen Nähten, der Fernseher lief, der Baum blinkte, Geschenkverpackungen lagen zerknüllt auf dem Boden, aufgekratzte Kinder und Hunde rannten überall herum. Das Essen war in Plastikcontainern auf dem Küchentisch angerichtet, jeder hatte etwas beigetragen, man bediente sich selbst, ass von Papptellern. Wir waren die einzigen nicht direkt Verwandten, aber unsere Anwesenheit schien niemanden zu wundern oder gar zu irritieren. 

Das kannte ich nicht. Und ich weiss noch, wie ich auf der Heimfahrt darüber nachdachte. Wann das angefangen hatte und woher das kam, dass wir an Weihnachten quasi die Schoten dichtmachten. Dass wir den viel beschworenen «Kreis unserer Lieben» so eng zogen. Alte Freunde mochten dazugehören, aber Fremde? Und dann fiel mir ein, wie ich einmal im Krippenspiel den bösen Gastwirt spielen musste, der Maria und Josef die Tür vor der Nase zuschlägt. Jedem Kind war klar, dass er nicht der Held der Geschichte war, kein Vorbild, dem wir nacheifern sollten.

Warum also machen wir ausgerechnet an Weihnachten unsere Türen zu?

Seit dieser ersten Weihnacht in San Francisco ist das anders. Seither ist meine Tür offen. Und sie bleibt offen. Bei allem, was sich seither in meinem Leben verändert hat, und das ist viel, eigentlich fast alles. Aber das bleibt. Offene Tür. Meine einzige Tradition. 

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