Als wir noch in der Schweiz wohnten und mein älterer Sohn in der dritten Klasse war, wurde ich zu einer Notfallbesprechung in die Schule gerufen. Diesmal war es ein Aufsatz, der ihm das Bein gestellt hatte. «Dinge, die ich brauche, um glücklich zu sein», hatte das Thema gelautet, eine tiefschürfende und bedeutungsvolle Vorgabe.
Die meisten Kinder hatten die fingerdick aufgetragene pädagogische Absicht sofort durchschaut und brav ihre Familien aufgelistet, ihre Freunde, die Natur und zur Sicherheit auch noch den Frieden. Auf der ganzen Welt natürlich. Nicht so mein Sohn, der eine Zeitmaschine forderte, schnelle Pferde und – Gewehre. Gewehre! Das liess auf Gewaltbereitschaft schliessen. Dass ich damals vor allem für meine Mordgeschichten bekannt war, machte die Sache nicht besser.
Ich atmete tief durch und schlug vor, den Übeltäter selbst zu fragen, was er damit meinte. Er erklärte, ohne zu zögern, dass er sich mit der Zeitmaschine nach Nordamerika versetzen wolle, genau einen Tag, bevor Kolumbus dort landete. Dann würde er die Ureinwohner dieses Kontinents warnen, mit Pferden und eben Gewehren ausrüsten.
Es war einer der stolzesten Momente meines Lebens.
Ein halbes Jahr später stand derselbe Junge auf der Bühne eines amerikanischen Schultheaters, mit schwarzem Hut und Schleifenkrawatte als Siedler verkleidet. Immer wieder schob er den Finger in den Kragen, als würge es ihn. Auch wir Eltern sassen recht fassungslos im Publikum, als die mit Lendenschurz und Federschmuck als Ureinwohner verkleideten Kinder die Bühne betraten.
Sie brachten Maiskolben, Kürbisse und Truthähne mit und retteten so die Siedler durch den ersten, garstigen Winter. Wie diese die Gastfreundschaft verdankten, ist allgemein bekannt, wurde in diesem Zusammenhang aber komplett ausgeblendet. Verseuchte Wolldecken und Whiskyflaschen wurden auch keine verteilt, dafür tanzten am Ende alle händehaltend um den Tisch, selbst die beiden Truthähne. Und wir verstanden plötzlich, wie Geschichte geschrieben wird.
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Wir wollten Thanksgiving als Feiertag schon abschreiben, als unsere Vermieter uns einluden, alte Hippies, die den Brauch durchaus kritisch hinterfragten und uns doch das Beste daran zeigten. «Es geht ums Zusammensein», sagten sie. «Es geht um Freundschaft, ums Essen und um die Dankbarkeit.» Bevor der Kürbiskuchen aufgeschnitten wurde, mussten wir alle einen Moment lang überlegen und dann die Dinge auflisten, für die wir gerade besonders dankbar waren.
Das kam mir erst komisch vor, irgendwie intim und deshalb peinlich. Ich weiss nicht mehr, was ich sagte, als ich an der Reihe war, doch ich erinnere mich, wie meine Stimmung sofort spürbar anstieg. Und seither tue ich das regelmässig. Denn es funktioniert immer, selbst am trübsten grauen Wintertag kann ich etwas Schönes finden, etwas Warmes, etwas Helles.
Also: Danke, Leben. Danke für die letzten zehn Jahre. Danke für das Geschenk des Älterwerdens.
«Heute ist es genau 23 Jahre her, dass mir zum ersten Mal gesagt wurde, ich hätte noch sechs Monate zu leben», sagte Victor neulich. Danke auch dafür.
Danke für deine Unberechenbarkeit, Leben. Danke für deinen Eigensinn. Danke für die unverhofften Glücksmomente, die Begegnungen, die Einsichten. Danke für die letzten Jahre, für die Falten, die schlaflosen Nächte, die Sorgen und die Ängste. Danke, dass du mir immer einen Ausweg zeigst. Danke für die Zuversicht, die auf der Erfahrung beruht: Irgendwie geht es immer. Nicht immer sofort, aber immer irgendwie.