Milena Moser über zufällige Begegnungen
Fremde im Regen

Gerade, als ich mich so ganz eins mit meiner alten Heimat fühlte, erinnerte mich eine Erscheinung daran, dass ich auch noch eine andere, eine neue Heimat habe. Und dass ich beide brauche.
Publiziert: 12.11.2023 um 08:30 Uhr
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Aktualisiert: 11.11.2023 um 15:55 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (60) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Der Traum vom Fliegen» und ist soeben erschienen.
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Neulich stand ich ziemlich spätabends an einer Tramhaltestelle. Es war dunkel, es regnete, ich fror. Aber ich war glücklich. Obwohl sich meine alte Heimat nicht gerade von ihrer Sonnenseite zeigte, hatte sie mich doch mit offenen Armen aufgenommen und mit schönen Momenten geradezu überschüttet. Fast konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, warum ich weggezogen war. Da unterbrach eine tiefe, eindeutig amerikanische Stimme meine Gedanken: «Hey, Darling!» Ich schaute auf. Da stand unter einem riesigen schwarzen Schirm einer der schönsten Männer, den ich je gesehen hatte. Eine Erscheinung, direkt aus einem Hochglanzmagazin. «Schau dich an, wie farbenfroh du bist!», rief er auf Englisch. Ich musste lachen. Ich kam gerade von einer Lesung, trug einen gelben Overall, goldene Stiefel, einen rosa Mantel und einen grünen Schirm. Ein Papagei, mitten im Grau. «Du bist wohl nicht von hier», fuhr die Erscheinung fort. Da war sie wieder, die Frage meines Lebens: Wo bin ich zu Hause? Wo gehöre ich hin?

«Doch», sagte ich. «Doch, bin ich. Ich lebe nur nicht mehr hier. Schon eine ganze Weile nicht mehr.» Das Tram kam, wir falteten unsere Schirme zusammen und stiegen ein. Wir setzten uns nebeneinander hin, unser Gespräch war noch nicht beendet. Er erzählte mir, dass er in Oakland aufgewachsen sei, auf der anderen Seite der Brücke. Wir diskutierten die aktuelle Lage in San Francisco und überhaupt. Ich fragte ihn, warum er keine Socken trage – er war, dem scheusslichen Wetter zum Trotz, in einer Art Lederpantoffeln unterwegs. Eine modebewusste Freundin erklärte mir später, das trage man heute so. 

Er fragte mich, ob ich das Dolder Grand kenne, er habe gehört, das sei ein guter Ort, um Männer kennenzulernen. «Ist das so, Darling?» Dazu konnte ich nichts Gültiges sagen, ich wusste nicht einmal mehr genau, wo er aussteigen musste, um das Bähnli zu erwischen, und prompt fuhren wir zu weit. Weil ich mich mitverantwortlich fühlte, stieg ich mit ihm aus und wartete mit ihm auf das Tram in der Gegenrichtung. Der Regen war stärker geworden, es war schon spät. Ich konnte mir nicht vorstellen, jetzt noch auszugehen, geschweige denn, jemanden kennenzulernen. Aber ich war auch mindestens doppelt so alt wie mein neuer Bekannter. Er schien allerdings ähnliche Zweifel zu haben, denn plötzlich seufzte er tief. Er suche kein Abenteuer, gestand er. Er suche einen Ehemann. «Ich möchte so gern jemanden haben, der zu mir gehört und ich zu ihm.» 

«Das verstehe ich gut. Bei mir hats drei Anläufe gebraucht.» So standen wir unter unseren Schirmen, zwei Fremde im Regen, die ihre tiefsten Sehnsüchte austauschten. Und dann wusste ich wieder, was ich an meiner neuen Heimat so liebe: die Menschen. Die unverhofften Begegnungen, die intimen Momente. Die Fremden, die nicht lange Fremde bleiben. 

Ich fuhr mit ihm eine Station zurück zum Römerhof, wo tatsächlich noch ein Zahnradbähnchen den Berg hochfuhr, zum Grand Hotel mit seinem funkelnden Versprechen, seinen Möglichkeiten und vielleicht einem Mann für meinen neuen Freund.

«Viel Glück», rief ich ihm nach.

Er hob den Schirm zum Gruss: «Ich hab ein gutes Gefühl!»

Ich hoffe, er hat sein Glück gefunden. Dabei weiss ich nicht einmal, wie er heisst. Wir nannten einander Darling.

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