Die Redaktorin entschuldigt sich wortreich, dass sie das Video-Interview von ihrem Hobbykeller aus führt. Ich hingegen, ich bin sofort fasziniert: «Was ist das?», frage ich und zeige auf ein unförmiges, fast zwei Meter hohes Ding hinter ihr. Erst ist es ihr etwas peinlich, dann grinst sie. «Ein Boxsack.»
Kein Wunder hat mich das Ding fasziniert. Ich weiss nicht, wie oft mir in den letzten 20, 25 Jahren geraten wurde, das Boxen auszuprobieren. Die unterschiedlichsten Menschen aus meinem Umfeld sind sich einig, dass mir das besonders guttun würde. Mit dem Yoga, das ich so liebe, sind sie nicht einverstanden. Ich sei ohnehin schon zu nachgiebig, finden sie. Wenn auch körperlich nicht besonders beweglich. Mir fehle es an Durchsetzungskraft, sagen sie.
Mein jüngerer Sohn vergleicht mich sogar mit Charlie Brown, der Lucys Versprechen, dass sie den Football diesmal nicht im letzten Moment wegziehen würde, jedes Mal von neuem glaubt. Und jedes Mal von neuem ins Leere tritt und über die eigenen Beine fällt. Der Vergleich ist nicht besonders schmeichelhaft, aber auch nicht falsch.
Damit bin ich aber nicht allein. Die Journalistin erzählt, dass sie nebenberuflich in einem Boxstudio arbeitet, wo sie vor allem Frauen wie mich trainiert. «Ihre Generation hat keinen richtigen Zugang zur Wut», sagt sie. Das stimmt. Das geht auch meinen Freundinnen so.
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Werden wir überhaupt wütend, fragen wir uns. Richtet sich unsere Wut nach innen oder nach aussen, gegen uns selbst oder gegen die Welt? Und warum fällt es uns so schwer, uns mit ihr auseinanderzusetzen? Über Faulheit oder Neid nachzudenken, fiel mir sehr viel leichter. Mit der Wut hadere ich.
Fremd ist sie mir nicht: Ich bin mit einer wütenden Mutter aufgewachsen. Diese Wut hatte gute Gründe, die ich aber als Kind nicht nachvollziehen konnte. Ihre Heftigkeit machte mir in erster Linie Angst. Später gab es aber durchaus Situationen, in denen ich meine Stimmbänder wund schrie, und ich hab auch den einen oder anderen Teller an die Wand geschmissen. Nur hat sich das nie gut angefühlt.
Meine Wut war nie ein Ausdruck von Stärke, sondern immer von Verzweiflung. Nie fühlte ich mich hilfloser als in diesen Momenten. Und immer löste sich meine Wut in bitteren Tränen auf.
Am besten konnte ich sie noch schreibend umleiten. Nicht umsonst waren meine ersten Bücher voller ungeplanter Morde. Doch sobald ich vom Schreibtisch aufstand, war sie mir suspekt. Privat wollte ich nichts mit ihr zu tun haben. Ich lenkte mein Leben in angenehmere und respektvollere Bahnen.
Ich trainierte das Aushalten von unangenehmen Situationen. Ich verliebte mich in den lebenslustigsten Mann, den ich je getroffen hatte, und liess mich von seinem Optimismus anstecken und inspirieren.
Aber die Wut ist nicht verschwunden. Sie flackert manchmal durchaus noch auf. Im endlosen Kampf mit dem amerikanischen Gesundheitswesen. Wenn ich mir die Nachrichten anschaue. Wenn sich der Himmel wieder orange färbt. Und dann denke ich, ich sollte sie respektieren. Mehr noch, sie anfachen und auflodern lassen wie ein Feuer.
Auch wenn sie schwer auszuhalten ist. Aber es ist die Wut, die uns antreibt, zu kämpfen, zu bewegen, zu verändern. Es ist die Wut, die uns die Kraft verleiht, den Felsbrocken den Berg hinaufzuschieben.