Seit Jahren lebe ich, leben wir alle in diesem ständigen Gefühl von «Das kann doch nicht wahr sein, das kann doch nicht wirklich passiert sein?». Die Lage der Welt schraubt sich immer tiefer in ungeahnte Dimensionen des Grauens, die Realität ist als solche gar nicht mehr erkennbar.
Ich kann nicht mehr. Ich kann es nicht mehr aufnehmen. Ich kann es nicht mehr verarbeiten. Ich sehe diese Bilder, die meine Vorstellungskraft übersteigen, die ständig von neuen, noch schlimmeren Bildern und Filmen überlegt werden, bis Schicht auf Schicht auf Schicht des Grauens liegt.
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Ich erinnere mich, wie ich als Kind einen Bildband über den Holocaust anschaute. Meine Eltern gehörten zu der Generation, die den Zweiten Weltkrieg zwar nur knapp miterlebt hatten, aber umso leidenschaftlicher «Nie wieder Krieg!» glaubten. Ausserdem gab es bei uns keine verbotenen Bücher. Ich sass also auf dem Teppichboden und blätterte eine Seite um und brauchte sehr lange, um zu erkennen, was das Bild zeigte. Meine Augen weigerten sich, das Gesehene weiterzuleiten. Meine Kinderseele konnte es nicht verarbeiten. Was war das, dieses unregelmässige Muster, dieser ungeordnete Haufen – was?
Es war ein Berg ausgemergelter, nackter Leichen. Wie Abfall entsorgte, weggeworfene, geschundene Körper. Kaum mehr erkennbar als die Menschen, die sie einmal gewesen waren, die einmal gelebt, geliebt, gearbeitet, getanzt hatten. Unter den Menschen, die sie so zugerichtet hatten, unter Nachbarn.
Wie war so etwas möglich?
Ich konnte es nicht erfassen. Es sprengte meine Vorstellungskraft, meine kleine Welt zerbrach in tausend Scherben. So ähnlich fühle ich mich jetzt. Und ehrlich gesagt, nicht erst jetzt, nicht erst in den letzten Wochen. Diese Fassungslosigkeit, diese Hilflosigkeit hat sich über Jahre aufgebaut und gesteigert. Jetzt droht sie mich zu überschwemmen, und ich rolle mich vor Angst zusammen wie ein Käfer.
Victor erinnert sich an den Moment, in dem er seine Unschuld verloren hat, den Glauben an das Gute, an sein Land. Er war vierzehn Jahre alt, als er auf dem Weg zu einem Schulfreund in Mexico City in das Tlatelolco-Massaker geriet und vor den schiessenden Soldaten fliehen musste. «Sie sahen aus wie ich», sagt er. «Arme Indigene, wie ich.» Bis zu diesem Tag hatte er fraglos an sein Land geglaubt, an die Armee seines Landes, über die er in der Schule nur Gutes gelernt hatte. Und jetzt musste er vor ihren Gewehren davonlaufen, sich verstecken, um sein Leben fürchten.
«Der Tag danach war der schlimmste. Wie weiterleben?»
Wie weiterleben. Mit diesen Scherben, wo einmal Gewissheit gewesen war.
Ich schaue Victor an, der ja offensichtlich sehr gut weiterlebt, der sein Leben geniesst. Wie?
Andererseits, wie nicht?
«Dieser Tag hat mich gebrochen, aber er hat mich auch stark gemacht.» Er lebt. Wir leben. Ein Atemzug nach dem anderen. Ein Schritt nach vorn, zwei Schritte zur Seite. Ein Bild malen. Eine Katze streicheln. Tomaten und Pfefferschoten rösten. Wäsche aufhängen. Einen Text schreiben. Leben.