Kennengelernt haben wir uns vor etwa zehn Jahren in Santa Fe. Ich brauchte neue Pressebilder, sie war mir empfohlen worden. Aber sie zögerte. Sie wollte mich erst kennenlernen. Sie war gross und schlaksig, mit einem wilden Lockenkopf und einem intensiven, forschenden Blick. Sie mache nicht gern Porträtaufnahmen von Frauen, erklärte sie mir.
Frauen seien zu selbstkritisch, nie mit sich zufrieden. Ich musste ihr versprechen, mich auf ungeschminkte, unretuschierte, nicht im Studio belichtete Aufnahmen einzulassen. Das gefiel mir sofort, es entsprach meiner damaligen Verfassung, meinem unbändigen Wunsch, mich selbst zu sein. Ich liebe die Bilder heute noch, sie sind ein Dokument meiner Entwicklung.
Nachdem ich Santa Fe verlassen hatte, verfolgte ich Annas Abenteuer in sozialen Medien weiter. Mit derselben unerschrockenen Offenheit, die sie mir gegenüber gezeigt hatte, teilt sie ihr Leben, ihre Fragen, ihre Zweifel und manchmal auch ihre Verzweiflung.
Santa Fe ist unter seiner lieblichen Fassade ein knallhartes Pflaster. Der Graben zwischen Arm und Reich, der in Amerika ohnehin schon tief ist, klafft hier zum Abgrund auf.
Als alleinerziehende, selbständig erwerbende Mutter einer Tochter mit besonderen Herausforderungen war Anna immer bis an über ihre Grenzen hinaus gefordert. Doch dann erschien ihr ein rettender Engel in der Person eines Taxifahrers. Er hörte sich ihre Sorgen an und riet ihr, nach Los Alamos zu ziehen.
In der kleinen Stadt, in der einst die Atombombe entwickelt wurde, leben vor allem Wissenschaftler. Die öffentlichen Schulen sind exzellent und die subventionierten Wohnungen sicher und angenehm. Anna erkannte den Engel, sie hörte auf ihn und befolgte seinen Rat.
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Das ist es, was ich meine, was ich so bewundere: diese Fähigkeit, eine Chance zu erkennen und sie zu ergreifen. Das verlangt Vertrauen, gerade in einem schwachen Moment. In der toltekischen Kultur meines Mannes heisst das «Nahui Olim», zwei Bewegungen. Standhalten und Nachgeben. Die Kunst ist, zu spüren, wann welche Bewegung angebracht ist.
Anna hat im richtigen Moment nachgegeben. Sie ist nach Los Alamos gezogen. Diesen Sommer hat ihre Tochter die Schule erfolgreich abgeschlossen und ihr Studium begonnen. Und vor Annas Wohnung blüht ein prachtvoller Blumengarten.
In Los Alamos fand Anna auch eine ungewöhnliche Stelle: Ein damals 89-jähriger pensionierter Ingenieur und passionierter Bergsteiger suchte eine Begleitung für seine Touren, zu Fuss oder auf Ski. Annas Bedingung war, ihn fotografieren und über ihn schreiben zu dürfen. Anna lernte langlaufen. Sie lernte, langsam zu gehen. Sich zwischendurch einfach auf den Boden zu legen und auszuruhen. Eine aussergewöhnliche Freundschaft entstand, trotz des Altersunterschieds von 50 Jahren.
Ihre Bilder und Berichte berühren mich, sie sind intim und respektvoll zugleich. Und beschreiben so genau die Verwundbarkeit und die unverhoffte, unbändige Freude, die mit körperlicher Versehrtheit einhergehen. Ich erkenne sie wieder.
«Du bist eine Schriftstellerin», kommentierte ich, nicht als Einzige, ihre Beiträge. Sie lässt sich zur Rettungssanitäterin ausbilden. Aber sie schrieb auch ein Theaterstück über den Bergsteiger, über ihre einzigartige Beziehung, das dieser Tage aufgeführt wird. Ich durfte es lesen.
Und da steht es: «Anna, wissen die Leute, dass du mich erfunden hast?» – «Die anderen Schriftstellerinnen wissen es.»