Ob die Gastgeber eine Flasche Wein in den Kühlschrank oder einen Blumenstrauss auf den Tisch gestellt haben, interessiert mich weniger als der Inhalt ihres Bücherregals. Obwohl ich selten darauf zurückgreifen muss: Vorsorglich bringe ich mehr Lesestoff mit, als ich realistischerweise verarbeiten kann. Worte wie Ferien, Freizeit, Entspannung und sogar Glück sind für mich untrennbar mit Büchern verbunden. In meinen frühesten Kindheitserinnerungen sehe ich meine Mutter auf einem Liegestuhl ausgestreckt oder in einem Korbstuhl zurückgelehnt, die Stirn gerunzelt, in ein dickes Buch versunken. Und sobald ich es ihr nachtun konnte, tat ich das auch. Perfekte Ferien bestehen für mich in erster Linie aus einem Koffer voller Bücher und der Möglichkeit, mich stundenlang in ihnen zu verlieren. Das schliesst hektische Aktivitäten aus, das Abhaken von Sehenswürdigkeiten, überhaupt ein Programm. Lesen verlangt eine gewisse Hingabe. Fordert Stunden und Stunden, Stille verbracht. Tage, die sich vor uns ausrollen wie ein endloser Zauberteppich. Ein jüngerer Freund ist sichtlich konsterniert, als ich ihm meine Ferienpläne auseinandersetze, die im Wesentlichen aus dem Wort Lesen bestehen. «Klingt, ähem, ... todlangweilig», will er wohl sagen, ist aber zu höflich dazu. Aber zum Glück teilt meine Freundin meine Vorstellungen von einer gelungenen Auszeit. Des einen Albtraum ist der anderen Glück.
Kaum in unserem Ferienhaus angekommen, stehe ich schon vor dem Regal. Ich ziehe einzelne Bücher heraus, versuche mir vorzustellen, wer sie zuletzt gelesen – und warum hier zurückgelassen hatte. Weil das Buch nicht gehalten hatte, was der Umschlag versprach? Oder im Gegenteil, um das Leseglück zu teilen und weiterzugeben? Ich lege die Titel paarweise zusammen, stelle mir vor, wie zum Beispiel eine Vogelbeobachterin und eine Hobbydetektivin hier ihre Flitterwochen verbrachten, wie ein Vollblutromantiker ein Wochenende mit einer politischen Aktivistin verbrachte. Ich sehe den Teenager vor mir, der die Familienferien überhaupt nur dank der mitgereisten Vampire aushalten konnte. Wenn ich mich in den knorrigen Sessel auf der Terrasse setze, denke ich an all die, die vor mir hier sassen, letzte Woche oder vor zwei Jahren. Die ihr Buch aufgeschlagen auf die Armlehne legten und den Blick über die Hügelketten schweifen liessen. Halb hier, halb noch zwischen den Seiten gefangen.
So vergingen ein paar Tage, in einvernehmlichem Schweigen, nur unterbrochen von Fragen wie: «Hast du Hunger?» oder «Soll ich eine Flasche Wein aufmachen?»
Dann beschlossen wir, ans ungefähr eine Stunde entfernte Meer zu fahren und den Tag am Strand zu verbringen. Doch als wir ankamen, stellte sich heraus, dass meine Freundin ihr Buch vergessen hatte. Eine Panik erfasste sie, die ich absolut nachvollziehen konnte. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass man unmöglich einen Tag am Strand verbringen kann, ohne zu lesen. Aus diesem Grund hat sie in ihrem Auto mehrere «Bücher für den Notfall» versteckt, im Handschuhfach, im Kofferraum. Dummerweise war aber ich gefahren. Wir suchten den einzigen kleinen Laden in erreichbarer Nähe auf, der vor allem Strandutensilien und Snacks anbot. Auf Nachfrage wurden uns ein Yacht- und ein Fischereimagazin zur Auswahl angeboten. Sicherheitshalber kauften wir beide. Und selbstverständlich liessen wir sie bei unserer Abreise im Regal zurück.