Vor etwa zwanzig Jahren versuchte ich, surfen zu lernen. Schon damals war ich eigentlich zu alt dazu, ganz zu schweigen von ungeschickt, unsportlich und ängstlich. Zur Vorbereitung hatte ich mir einen Dokumentarfilm über alte Surfer angeschaut, wobei mir sehr wohl bewusst war, dass diese nicht alt gewesen waren, als sie damit angefangen hatten.
Aber sie waren Beweis dafür, dass auch alte Körper den Wellen standhalten können. Am stärksten blieb mir ein über Achtzigjähriger in Erinnerung, der zwar nicht mehr aktiv surfte, sich aber auf dem Land mit einem Skateboard fortbewegte, elegant und selbstverständlich. Er erzählte von der Freiwilligenarbeit in einem Altersheim, offensichtlich vollkommen unbeeindruckt von der Tatsache, dass die von ihm Betreuten zum Teil jünger waren als er. Das Surfen hatte ihm eine gewisse Überheblichkeit verliehen, verstand ich. Ein Gefühl der Unverwundbarkeit. Das wollte ich auch erleben.
Als ich in Südkalifornien ankam, regnete es in Strömen. Die Lektion fand trotzdem statt. Ich übte gefühlte siebentausend Mal am Strand, mich vom Brett hochzustemmen und in die Hocke zu springen, bevor ich endlich ins Wasser durfte. Die Wellen waren höher, als sie vom Strand aus gewirkt hatten. Wieder und wieder warfen sie mich um, drückten sie mir das Brett in den Bauch. Ich brauchte ewig, um überhaupt über die Brecher hinauszukommen und mich aufs Brett zu legen.
An diesem Tag schaffte ich es nicht ein einziges Mal, auf die Füsse hochzukommen. Aber ein, zwei glorreiche Wellen ritt ich auf den Knien bis zum Ufer. Ein solches Hochgefühl hatte ich in meinem Leben noch nicht empfunden. Stundenlang hatte ich erfahren, wie übermächtig, wie gewaltig das Meer war und wie winzig und ohnmächtig ich. Und dann plötzlich waren wir eins, die Welle und ich. Ich musste mich ihr nur hingeben.
Ich beschloss, nie wieder etwas anderes zu machen als zu surfen.
Milena Moser – weitere Kolumnen
Doch zurück in San Francisco, verliess mich der Mut. Ich wagte mich nicht mehr aufs offene Wasser hinaus. Dabei waren es nicht die Wellen, vor denen ich mich fürchtete, sondern die anderen Surfer, junge Männer meist, die ihre Territorien auf dem Wasser aggressiv verteidigten. Als hätten sie sie erobert, bezwungen. Als gehöre das Meer ihnen.
Meine Freundin Magdalena, die ehemalige Segelkapitänin, lachte nur, als ich ihr das erzählte. «Komm mit zum Boogieboarden», sagte sie. «Das ist eine egofreie Zone!» Wir legten uns auf Schaumgummibretter und liessen uns von der Gischt zum Ufer tragen. Ausser uns vergnügten sich nur Kinder auf diese Weise. Das Glücksgefühl war aber dasselbe.
Seit ein paar Jahren gehe ich ganz ohne Brett ins Wasser. Schwimmen würde ich es nicht einmal nennen, es ist eher ein Untertauchen oder ein Mich-untertauchen-Lassen. Ich spüre, wie das Meer über mir zusammenschlägt, mir den Boden unter den Füssen wegzieht, mich wie eine Strohpuppe hier- und dorthin spült.
Ich könnte dagegen ankämpfen, aber ich tue es nicht. Ich lasse mich treiben, tauche unter und wieder auf und dann wate ich ans Ufer zurück. Ich bin nicht hier, um mir etwas zu beweisen. Ich bin hier, um mich zu erinnern: Ich bin nichts. Das Meer ist alles.