«Holst du mich ab?» – «Klar.» Das klingt so einfach. Ist es aber nicht immer. Wir waren schon ein paar Jahre zusammen, als ich zum ersten Mal sein Angebot, mich jederzeit und überall abzuholen, in Anspruch nahm. Irgendwie war es mir peinlich. Wollte ich nicht mehr Schritte zählen? Die Nachbarschaft erkunden? Oder wenn schon fahren, dann doch wenigstens die maroden öffentlichen Verkehrsmittel unterstützen? Victor findet nichts dabei, er bietet es mir jedes Mal an, wenn ich das Haus verlasse. Und doch empfinde ich jedes Mal ein leises Gefühl der Peinlichkeit, des Versagthabens. Und jetzt, als ich an der Ecke des Dolores-Parks auf das vertraute Knattern von Victors Truck warte, erinnere ich mich plötzlich:
An meine erste Velotour mit meiner besten Freundin. Es war in den Frühlingsferien, zwischen der 6. Klasse und der Oberstufe. Wir haben beide im Sommer Geburtstag, waren also noch keine 13 Jahre alt. Wir waren Kinder. Und wir hatten uns in den Kopf gesetzt, fünf Tage lang mit dem Velo durch die Schweiz zu fahren. Allein. Wo genau unsere Route uns hinführte, weiss ich nicht mehr, nur Kreuzlingen ist mir noch in Erinnerung. Und der Rheinfall. Unterwegs verpflegten wir uns aus Lebensmittelläden, für Restaurants oder Cafés reichten weder das Geld noch der Mut. Und wir schliefen in Jugendherbergen, von denen aus wir jeden Abend unsere Eltern anriefen.
Unsere Eltern. Wie wir sie dazu überreden konnten, ist mir schleierhaft. Vermutlich haben wir beide behauptet, die anderen hätten es bereits erlaubt. Wenn ich heute daran zurückdenke, wird mir ganz bang. Zwei so junge Mädchen tagelang allein unterwegs, naiv, unerfahren, komplett schutzlos. Was hätte nicht alles passieren können!
Es ist aber nichts passiert. Einmal teilten wir ein Zimmer mit älteren Mädchen, die uns nach unseren Freunden ausfragten und ob wir schon einmal jemanden geküsst hätten. Wohl wissend, dass wir keine Ahnung hatten. In der Gemeinschaftsküche einer anderen Jugendherberge machte sich ein älterer Junge an uns heran. Meine Freundin drohte ihm mit dem Kochlöffel, und er liess uns in Ruhe. Einen ganzen Tag lang regnete es wie aus Kübeln, ich sehe noch die Darvida in unseren Händen zu Brei aufweichen. Bis wir am Nachmittag unser Ziel erreichten, waren wir bis auf die Knochen durchnässt. Wir kamen an unsere Grenzen, wir wuchsen über uns hinaus. Und das fühlte sich gut an.
Erst auf der letzten Etappe, nicht weit von zu Hause, war uns plötzlich alles zu viel. Ein langer, steiler Aufstieg stand uns bevor. Der Mut, der uns durch die Woche getragen hatte, verliess uns. Aus einer Telefonkabine rief ich meine Mutter an. «Holst du uns ab?» Die beiden Velos hatten im Kofferraum Platz, und mit dem Auto war es auch gar nicht weit nach Hause.
Doch jetzt war das die Zusammenfassung unserer Reise, die Quintessenz: «Wie, ihr habt euch abholen lassen? Mit dem Auto?» Ich weiss nicht mehr, ob es unsere Brüder waren, die das in Umlauf brachten, aber bald wussten es alle. Und unser Abenteuer hatte seinen Glanz verloren. «Haha, ihr musstet das Mami anrufen! So peinlich!» Kein Wunder, fällt es uns heute noch schwer, um Hilfe zu bitten. Und damit meine ich nicht nur meine Freundin und mich.
Ich bin so in meine Erinnerungen versunken, dass ich Victors Truck gar nicht kommen höre. Ich sehe ihn erst, als er neben mir hält. Und dann schüttle ich sie ab, die Erinnerungen, die Ansprüche, das Gefühl der Peinlichkeit.