Milena Moser
Das Unerledigte bleibt

Unterdessen sind zwei weitere Wochen vergangen, unser Esszimmermöbel ist fast fertig gestrichen, aber eben nur fast. Trotzdem fahren wir nicht nur in die Ferien, wir haben sogar eine Bekannte eingeladen, unser Haus zu hüten. In seiner ganzen Unerledigtheit.
Publiziert: 05.06.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 03.06.2023 um 11:28 Uhr
Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Vor Jahren gestand mir eine Freundin, dass sie nicht nur die ganze Wohnung putze, bevor sie in die Ferien fahre, sondern auch jedes einzelne Buch aus dem Regal nehme, um dahinter abzustauben. Warum, das konnte sie mir nicht genau erklären. Es hatte damit zu tun, was andere denken könnten. Andere, die im Falle eines Falles in ihrer Abwesenheit ihre Wohnung betreten und hinter die Bücher schauen könnten.

Hinter die Bücher schauen? Ich denke ja bei so etwas eher an geheime Mitteilungen und versteckte Schätze als an Staub-Shaming, aber ganz fremd ist mir dieses Verhalten auch nicht. Ich habe durchaus Mühe mit der Vorstellung, dass nun eine junge Frau, die ich nicht einmal besonders gut kenne, eine Woche lang mit den Farbgerüchen leben muss, mit dem Geschirr, das sich auf dem Esstisch auftürmt, mit dem Krimskrams, der überall herumliegt.

Und so stehe ich am Tag unserer Abreise tatsächlich um fünf Uhr auf, um den Tisch freizuräumen. Doch bevor die erste Schachtel voll ist, halte ich inne. Was soll das jetzt? Geht es mir wirklich darum, was diese junge Frau von uns denken könnte? Nein. Es ist eher eine verkrustete Resterinnerung aus der Kindheit, eine vor langer Zeit gelernte Lektion: Dessert gibt es erst, wenn du den Teller leer gegessen hast. Zum Spielen darfst du erst raus, wenn du das Geschirr abgetrocknet, dein Zimmer aufgeräumt und die Hausaufgaben gemacht hast. Die Vorstellung, dass erst alle Pflichten erledigt werden müssen, bevor man etwas so Frivoles wie Spass haben kann, sitzt tief, und nicht nur bei mir.

Da stelle ich auch keinen grossen Unterschied zwischen Schweizer Freundinnen und Kalifornierinnen fest. Die einen sind vielleicht mehr auf den Haushalt und die anderen mehr auf Erledigungstouren fokussiert, aber der Motor, der uns alle antreibt, ist derselbe: die unsinnige Hoffnung, dass eines Tages alles erledigt und abgehakt, geschafft und geleistet sei. Und wir uns dann endlich zurücklehnen könnten. Dieser Moment tritt natürlich nie ein, selbst wenn wir hinter jedem einzelnen Buch im Regal gesaugt haben. Das Leben bleibt nie stehen. Erledigt ist es nie.

«Mich hat neulich der Steuerberater zusammengeschissen», erzählt eine Freundin. Ich schaudere unwillkürlich, denn das passiert mir auch jedes Jahr. Doch in ihrem Fall war es gerade umgekehrt: Der Steuerberater hielt ihre verbissene Sparsamkeit nicht mehr aus. Sie hat eine schwierige Scheidung durchgemacht, ihren Sohn allein und ohne grosse Schulden durchs College gebracht, was in Amerika eine gewaltige Leistung ist. Jetzt spart sie auf ihre Pensionierung, auch diese ist in Amerika nicht automatisch gesichert, oder eigentlich gar nicht. Also spart sie mit einer Zielstrebigkeit, die ich oft bewundere. Der Steuerberater hingegen findet sie übertrieben.

«Wann willst du denn endlich dein Leben geniessen?», fragte er sie entnervt. «Wenn du tot bist?»

Das gab nicht nur meiner Freundin zu denken, sondern auch mir. Wann ist genug genug?

«Wann bin ich dran?», fragte sie, und ich konnte nur hilflos mit den Schultern zucken. Nie. Oder immer. Oder jetzt. «Und wer bestimmt das? Ja, ja, ich weiss schon, ich selbst ...»

Ich packe die halbvolle Schachtel Geschirr wieder aus und lege einen Zettel auf den Tisch. Verkneife mir die automatische Entschuldigung und schreibe stattdessen: Temporäre Installation. Bitte nicht berühren. Einsturzgefahr.

Dann fahren wir los.

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