Milena Moser
Das Beste beider Welten

Wieder einmal schreibe ich eine Kolumne am Flughafen, während ich am Gate auf meinen Flug warte. Wieder einmal spüre ich die Zerrissenheit der Ausgewanderten, den unvermeidlichen Schmerz des Abschiednehmens. Doch diesmal überwiegt die Dankbarkeit.
Publiziert: 15.05.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 13.05.2023 um 11:28 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Als wollte sie mir den Abschied leichter machen, hüllt sich meine Heimatstadt in ihre Lieblingsfarbe. Der Himmel ist grau, die Häuser sind grau, die Strassen, die vereinzelten Regentropfen auf den Fensterscheiben. Leicht ist der Abschied trotzdem nicht, ist er nie. Doch während ich hier am Gate sitze, stelle ich verwundert fest, dass ich nicht weine. Irgendwie ist mir leichter zumute als auch schon. Obwohl, oder gerade weil dieser Aufenthalt besonders schön war. Ich bin zum Beispiel nicht krank geworden. Und Victor, der vor meiner Abreise notfallmässig im Spital gelandet war, erholte sich wieder einmal so schnell, dass alle staunten und ich mich entspannte.

Ich hatte genug Zeit für meine Lieben, manche konnte ich sogar mehrmals sehen. Das eine oder andere kleine Kind erkannte mich sogar wieder und nannte mich Tata – eine ganz besondere Auszeichnung. Nun könnte ja gerade das den Abschied schwerer machen, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich bin zum Platzen voll mit Glück wie ein Heissluftballon. Dieses Glücksgefühl hat mich durch die Passkontrolle und an den jodelnden Wandbildern vorbeigetragen. Und wird mich weiter tragen, über die Ozeane und Kontinente hinweg bis in meine andere Heimatstadt, die bunte.

Ich habe ja nicht, wie andere, wie «normale» Auswanderer, ein Leben hinter mir gelassen, um ein neues zu beginnen. Ich lebe zwei Leben, an zwei Orten. Bisher dachte ich immer, die Zerrissenheit, die ich eigentlich immer empfinde, egal, wo ich bin, und der Schmerz jeder Abreise seien nun mal der Preis, den ich für dieses doch eher vermessene Lebensmodell bezahle. Das habe ich akzeptiert. Doch jetzt empfinde ich vor allem überwältigende Dankbarkeit.

Die Wahrheit ist, dass ich schon als Kind mit der Vorstellung haderte, dass mir nur ein Leben zur Verfügung stand. Das konnte doch unmöglich reichen! Das musste ein Missverständnis sein. Dann lernte ich lesen. Jedes Buch war ein Fenster in eine andere Welt. Ich stürzte mich zwischen die Seiten wie in die Wellen des Meeres, ich schwamm mit den Geschichten mit, ich löste mich in ihnen auf. Jedes Buch, das ich las, war wie ein zusätzliches Leben. Und später auch jedes Buch, das ich schrieb. Und am Ende waren es auch die Bücher, die mir dieses doppelte Leben ermöglichen. Nicht nur die Bücher, die ich schreibe und die nicht an einen Ort gebunden sind, sondern vor allem die Bücher, die ich lese, die mein Vorstellungsvermögen so weit trainiert haben, dass es diese verwegene Möglichkeit eines Lebens auf zwei Kontinenten zugelassen hat.

Victor versteht das: Schliesslich hat er jahrelang auch an zwei Orten zwei ganz verschiedene Leben gelebt. Das eine vom Rhythmus des Maisanbaus und der traditionellen Zeremonien bestimmt, das andere von den Anforderungen des Kunstmarktes. Er hat sich nicht freiwillig auf einen Ort beschränkt, die Entscheidung wurde ihm aufgezwungen. «Wenn ich könnte, würde ich auch», sagt er. Wehmut schwingt in seiner Stimme mit. Und jetzt müsste ich mich eigentlich schuldig fühlen, doch seine Geschichte verstärkt mein Gefühl der Dankbarkeit nur. Ich würde ihm unrecht tun, wenn ich mein (absolut unverdientes) Privileg, mein Glück nicht anerkannte, nicht würdigte.

Okay, jetzt kommen die Tränen doch noch ...


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