Milena Moser
Alte Freundinnen

Es gibt nichts Wertvolleres als langjährige Freundschaften. Als Menschen, die uns schon lange kennen, in allen Versionen unserer selbst. Die sich manchmal besser an uns erinnern als wir selbst.
Publiziert: 07.05.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 06.05.2023 um 18:13 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Ich habe mich immer gewehrt, Freundschaften in Ranglisten einzuordnen: Meine beste Freundin, meine zweitbeste Freundin, mein absolut-bester Freund. Das mag daher kommen, dass ich als Kind gar nicht genug Freundinnen hatte, um sie so durchzuzählen. Lange Zeit war es nur eine. Uns verband die Liebe zum Lesen. Nach der Schule gingen wir meist zu ihr nach Hause, weil sie näher wohnte. Wir suchten uns jede ein Buch aus ihrem Regal aus, setzten uns nebeneinander auf den Teppich, mit dem Rücken an den harten Bettrahmen gelehnt und lasen. Später trieben wir gemeinsam die Gemeindebibliothekarin zur Verzweiflung, weil wir immer versuchten, mehr Bücher auszuleihen, als uns zustanden, oder dann solche, für die wir noch zu jung waren. (Liebesgeschichten natürlich, zwischen Stadtfräuleins und neuseeländischen Schafzüchtern, soweit ich mich erinnere.)

Später kam eine Zweite dazu, die ein paar Jahre älter war als ich und mir deshalb auf dem Pausenplatz nicht beistehen konnte. Dafür brachte sie mir später das Rauchen bei und die korrekte Aussprache englischer Songtexte. Wir verbrachten Stunden damit, uns unsere Zukunft auszumalen. Damals traute ich mich noch nicht, meinen geheimen Wunsch, Schriftstellerin zu werden, auszusprechen. Das tat ich dann noch ein paar Jahre später, mit einer dritten Freundin, die neben mich gesetzt wurde, als ich mitten im Jahr die Schule wechselte. Sie sollte mir helfen, mich zurechtzufinden, und das hat sie getan. Weit über das Klassenzimmer hinaus.

Letzte Woche habe ich sie alle drei wieder gesehen. Wir sind immer noch befreundet. Unsere Beziehungen haben sich verändert, sind zwischendurch auch mal eingeschlafen oder eingerostet, unsere Leben haben sich voneinander weg und dann wieder aufeinander zu entwickelt. Doch das Wesentliche ist, dass wir so viele Versionen voneinander kennen. Das schüchterne Kind, den linkischen Teenager, die Träumerin, die Aufmüpfige, die Verliebte, die Verzweifelte. Die junge Mutter und die Empty-Nesterin. Die Erfolgreiche, die Geknickte. Die Wieder-Aufstehfrau. Wir müssen nichts erklären. Wenn ich meine Mutter erwähne, die ja nicht mehr lebt, wissen sie, von wem ich rede. Und umgekehrt. Irgendwo habe ich gelesen, dass der tiefste Wunsch jedes Menschen ist, erkannt zu werden. Alte Freundschaften erfüllen diesen Wunsch gleich mehrfach. Wir erkennen einander durch die Jahre hindurch, wir sehen, wer wir heute sind und wer wir gestern waren.

Letzte Woche sass ich bei einer dieser Freundinnen auf der Terrasse, da sagte sie plötzlich, sie habe noch alte Gedichte von mir, ob ich mich an die erinnere? Ich hätte sie ihr gegeben, als ich fünfzehn oder sechzehn war. Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste zwar schon noch, dass ich in diesem Alter Berge von Gedichten geschrieben habe, vor allem, wenn ich Liebeskummer hatte. Was praktisch immer der Fall war. Aber inhaltlich konnte ich mich an kein einziges erinnern. Sie sprang auf und suchte den Ordner hervor. Da waren sie, säuberlich unter M eingeordnet, mit der mechanischen Schreibmaschine auf Durchschlagpapier getippt, Dokumente einer längst vergangenen Zeit. Meine Kehle wurde eng, meine Augen brannten, ich war von meiner eigenen Rührung überrascht. Da war ein Teil von mir, den ich vergessen hatte. Ein Teil, zu dem ich keinen Zugang mehr hatte. Ein Teil, den sie für mich bewahrt hatte und den sie mir nun zurückgab. Ich nahm die Blätter in die Hand und begann zu lesen ...

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