Milena Moser
Der Baumstamm auf der Strasse

Victor vergleicht das Leben mit einer Fahrt ins Blaue. Unterwegs kann alles Mögliche passieren. Zum Beispiel liegt plötzlich ein halber Baum mitten auf der Strasse und versperrt die Weiterfahrt. Was dann?
Publiziert: 01.05.2023 um 11:28 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Als Victor neulich im Krankenhaus lag, fragte ihn eine junge Ärztin, ob er im letzten Jahr grössere gesundheitliche Probleme gehabt habe. Vermutlich hatte sie das Lesen seiner umfangreichen Krankengeschichte der letzten zwanzig Jahre etwas überfordert. Oder vielleicht wollte sie auch nur sein Gedächtnis testen. Jedenfalls warf sie mir einen stirnrunzelnden Blick zu, als Victor fröhlich behauptete: «Etwas Grösseres? Nein, alles gut!» Ich gab ihm den stirnrunzelnden Blick weiter. Unsere Reaktion verwirrte ihn sichtlich: «Was denn?», fragte er.

Meinte er das ernst? Es sah ganz so aus. «Ähem, du hattest letztes Jahr Krebs, erinnerst du dich? Und eine allergische Reaktion auf die Chemotherapie. Und eine halbseitige Gesichtslähmung. Und eine verpfuschte Augenoperation.»

«Ach, das ...!» Er winkte ab. Dann schenkte er der Ärztin, die immer noch wartend und zunehmend verwirrt an seinem Bettrand stand, ein verlegenes Lächeln. «Das ist ja alles vorbei», sagte er treuherzig. «Das gilt doch nicht mehr!»

Ein paar Wochen später fragt mich die Moderatorin während einer Lesung, ob ich von Natur aus optimistisch veranlagt sei oder ob die amerikanische «Yes we can»-Mentalität auf mich abgefärbt habe. Die Antwort ist: weder noch. Meine Natur ist eher melancholisch und zweifelnd. Ich neige durchaus dazu, mich in düsteren Gedanken zu verlieren. Doch das ständige Wiederkäuen erlittener Verletzungen heilt diese nicht und macht auch nicht glücklich. So habe ich, sozusagen aus Notwehr, gelernt, rechtzeitig einen Schritt vom Abgrund zurückzutreten, meine galoppierenden Gedanken von der Dunkelheit weg zu lenken. Und dann hat mir das Leben Victor an die Seite gespült, einen wahren Meister der Lebensfreude.

«Weisst du noch, wie ich letzte Woche auf den Mount Tam gefahren bin, um zu malen?», fragte er mich, nachdem die Ärztin gegangen war. Ich nickte. Worauf wollte er hinaus?

«Da lag plötzlich ein halber Baum auf der Strasse, und ich konnte nicht weiterfahren.»

«Das hast du mir gar nicht erzählt!»

«Eben!» Er strahlte mich an, als hätte ich gerade einen Test bestanden, dabei hatte ich keine Ahnung, was er mir sagen wollte.

«Das mein ich ja: Der Baum war nicht wichtig! Ich bin ausgestiegen und hab ihn an den Strassenrand gezerrt, und dann wär ich fast von einer Gruppe Mountainbiker über den Haufen gefahren worden, und einen Splitter im Daumen hab ich mir auch geholt. Aber darum gings ja nicht. Es ging um den Berg und die Wolken und den Blick über die Bay. Es ging um die Bilder, die ich gemalt habe, und den Hotdog, den ich auf dem Rückweg gegessen habe. Nicht um den Baum auf der Strasse.»

«Du meinst, der Krebs ...?»

«War einfach ein Hindernis auf dem Weg. Nichts anderes.»

Was nicht heisst, dass uns die Diagnose damals nicht umgehauen hätte. Natürlich haben wir geweint, und ich habe, wenigstens im Stillen, durchaus mit dem Schicksal gehadert. Man kann nicht so tun, als sei das Leben nur Sonnenschein und Schmetterlinge. Es stürmt zwischendurch so gewaltig, dass ganze Bäume entwurzelt werden. Victor hat auch geflucht, als er den Baumstamm von der Strasse zerrte. Aber als er oben auf dem Berg ankam und seinen Malkasten auspackte, hatte er das alles vergessen. Ich hätte vermutlich ein wenig länger gebraucht, hätte bestimmt noch über die rücksichtslosen Biker geschimpft. Aber dann hätte der Zauber des Tages auch mich eingeholt. Auf dem Berg. Oder im Krankenhaus.

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