Milena Moser
He, Sie da!

Jeder Schweizer Bürger sei ein Polizist in Zivil, hat einmal jemand gesagt. War es Max Frisch, das Gewissen der Nation? Jedenfalls scheint das auch für Ausgewanderte zu gelten. Und zu meiner tiefen Beschämung offenbar auch für mich.
Publiziert: 20.02.2023 um 06:00 Uhr
|
Aktualisiert: 18.02.2023 um 15:02 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
Selfie 2.jpg
Milena MoserSchriftstellerin

«He, Sie!» Oh, wie ich diese Anrede hasse, die mich wie ein Pfeil aus dem Hinterhalt trifft. Wer so (oder im Härtefall auch mit «He, Sie da!») angesprochen wird, der hat definitiv etwas falsch gemacht. Das passiert mir öfter, wenn ich mich in der Schweiz aufhalte. Doch jetzt drängen sich diese Worte plötzlich zwischen meine eigenen Lippen, bevor ich sie im letzten Moment hinunterschlucken kann.

Ich warte in einer kurzen Autoschlange am Eingang eines kleinen staatlichen Naturparks. Diese schützen auch die spektakulärsten Landstreifen vor Immobilienspekulanten, sie verhindern, dass der Grand Canyon zum Erlebnispark wird, und sie ermöglichen mir, auch an der ansonsten dicht besiedelten, touristischen kalifornischen Küste stundenlang spazieren gehen zu können. Dafür bezahle ich die sieben Dollar Nutzungsgebühr gerne. Manche Parks haben am Eingang ein Rangerhäuschen stehen, wo man auch gleich die Neuigkeiten des Tages erfährt. Dass die Fischadler Eier gelegt haben oder dass ein Buckelwal gesichtet wurde. Da fühle ich mich immer wie eine Eingeweihte, obwohl ich einen Fischadler nicht von einer Möwe unterscheiden kann und des Öfteren schon Felsbrocken für Wale gehalten und aufgeregt fotografiert habe.

Hier aber steht nur eine antiquierte Maschine in der Einfahrt, die ratternd Banknoten einsaugt und Quittungen ausspuckt. Das dauert schon einen Moment, aber die Natur läuft uns ja nicht davon. Plötzlich taucht hinter mir ein schwarzer Kastenwagen auf, lässt ein paar Mal ungeduldig den Motor aufjaulen und braust dann, mit zwei Rädern im Gras, an uns allen vorbei. In Fernsehserien sitzen immer mindestens sechs Spezialagenten in so einem Fahrzeug. Ist etwa ein chinesischer Überwachungsballon in einem Fischadlernest gelandet?

Endlich habe ich bezahlt und den Parkplatz erreicht. Da sehe ich das schwarze Ungetüm wieder, doch da steigen keine Agenten aus, sondern eine einzelne, leicht gelangweilt wirkende Frau in einer teuer aussehenden Daunenjacke, die ausserdem das Handy so affig vor die Lippen hält, als wolle sie ein Stück davon abbeissen. Und da passiert es. Meine innere Zivilpolizistin erwacht: «He, Sie da!» will sie rufen. «Ja, Sie meine ich! Sie haben die sieben Dollar nicht bezahlt, das hab ich genau gesehen, was meinen Sie eigentlich, wer Sie sind?» Wie gesagt, ich schlucke die Worte im letzten Moment hinunter, doch ich bin erschüttert. Ich kenne mich nicht mehr. Ist etwa der Geist meiner verstorbenen Mutter in mich gefahren, die sich oft und heftig über andere aufregte, die sich nicht so verhielten, wie sie das für richtig hielt? Oder hatte Max Frisch, wenn es denn wirklich Max Frisch war, recht? Wohnt auch in mir eine Zivilpolizistin, eine Aufseherin, eine Kontrollorin? Bin ich gar vielleicht nicht so weltoffen und tolerant, wie ich gerne glaube?

«Es geht mir ja nur um die Naturparks, die auf das Eintrittsgeld angewiesen sind», versuche ich mich vor mir selbst zu verteidigen. Ganz nehme ich mir das nicht ab. Doch ich halte nach meinem Spaziergang noch einmal bei der Maschine an und füttere sieben Dollar nach. Für die Erhaltung der Parks, aber mehr noch, um meine inneren «He, Sie»-Dämonen zu beschwichtigen. Sicherheitshalber grüsse ich auch noch zum Schriftstellerhimmel hinauf, der vom Nebel verhangen ist. Vielleicht ist es auch Pfeifenrauch.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?