Letzte Woche versuchte ich, meinen Fahrausweis zu erneuern. Ich hatte es lange genug vor mir hergeschoben. Das Strassenverkehrsamt in San Francisco ist einer dieser von urbanen Legenden umwobenen Orte, an denen ein Mensch verschwinden könnte, zu Staub zerfallen, sich in Verzweiflung auflösen.
Seit Kalifornien die sogenannte «real ID» eingeführt hat, die sich vom bisherigen Fahrausweis, soviel ich weiss, nur durch einen goldenen Bären am oberen Rand unterscheidet, sind die einzelnen Filialen noch heilloser überrannt als zuvor. Freunde tauschen Tipps aus, wo die Schlangen am kürzesten sind. «Ich habs mit einem Skiwochenende in Lake Tahoe verbunden», sagt eine Bekannte grinsend. «War ganz easy, nur vier Stunden!»
Das ist für mich keine Option, also bereite ich mich tagelang vor, fülle alle denkbaren Formulare aus, bezahle die Gebühr im Voraus und melde mich sogar zu einem Termin an. Dann lege ich ein ordentliches Mäppchen mit allen verlangten Dokumenten an. Ich fühle mich fast schon zuversichtlich gestimmt, als ich mich eine halbe Stunde vor meinem Termin in die Schlange einreihe.
Sofort komme ich mit anderen Wartenden ins Gespräch. Ein junger Mann, der trotz der ungewöhnlich tiefen Temperaturen nur eine dünne, knielange Tunika und Sandalen trägt, erzählt schulterzuckend, dass er schon zum dritten Mal hier ist. «Ich überleg mir ernsthaft, nach Montana zu ziehen», sagt er. Wo keine «real ID» gefordert wird.
In der Schalterhalle angekommen, fixiere ich den Bildschirm mit den flackernden Nummern, als könne ich meine heraufbeschwören. Ein eleganter Herr setzt sich mit einem tiefen Seufzer neben mich. Ich bewundere seine rahmengenähten Lederschuhe, die aus der Masse der Turnschuhe herausstechen. Er erzählt mir, dass ihm der Fahrausweis wegen Trunkenheit am Steuer entzogen worden sei. «Das Beste, was mir passieren konnte, meine Liebe!»
Ich versuche, mir dieses Geständnis auf einem Schweizer Amt vorzustellen, es gelingt mir nicht. Dann fragt er mich, warum ich hier bin. «Um meinen Fahrausweis zu erneuern.» Er nickt verständnisvoll. «Ach, stimmt, das muss man ja jetzt mit 70 machen, so was von mühsam!» Ich schlucke.
Dieses Jahr werde ich 60, und ich freue mich darauf. Und auf alles, was noch kommt. Warum also zucke ich zusammen, wenn man mir zehn zusätzliche Jahre anhängt? Gschäch nüt Schlimmers, denke ich, und als hätte ich damit das Schicksal versucht, wird meine Nummer aufgerufen.
Der Angestellte ist sichtbar schlechter Laune, mein Mäppchen beeindruckt ihn gar nicht. Die Rechnung des Wasserwerks, die ich als Wohnsitznachweis mitgebracht habe, akzeptiert er nicht, weil mein Name nicht direkt über der Adresse steht. «Wer sagt mir, dass Sie die Wasserrechnung nicht für jemand anderen zahlen?»
Dann schimpft er mit mir, weil ich die Nummer meines alten Fahrausweises nicht auswendig hersagen kann. «Das muss man doch wissen!» Kurz, ich muss noch drei weitere Male antreten, und spiele schon selbst mit dem Gedanken, nach Montana zu ziehen. Doch irgendwann ist es geschafft. Nur das Foto fehlt noch.
Auch vor diesem Schalter hat sich eine lange Schlange gebildet, doch die winzige, alte Angestellte, die die Kamera bedient, ist bester Laune. «Gib mir ein Lächeln, Honey!», ruft sie. «Zeig mir deine Zähne! Ja, so ist gut!» Sie klingt wie ein schmieriger Modefotograf, aber sie bringt uns alle zum Lächeln. Bald wird es eine ganze Reihe von Fahrausweisen geben, auf denen die Menschen glücklich aussehen. Das war es doch wert, denke ich.