Milena Moser
Am Postschalter geht die Sonne auf

Jedes Mal, wenn ich die Schweiz besuche, bin ich wie eine echte amerikanische Touristin begeistert und beeindruckt von der Sauberkeit, Funktionalität und dem ästhetischen Anspruch von – eigentlich allem!
Publiziert: 05.12.2022 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 03.12.2022 um 15:54 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Als ich in Zürich landete und meinen Pass aus meiner wie immer viel zu grossen Tasche wühlte, fielen mir zwei Briefumschläge in die Hand. In einem war eine Karte für eine Freundin, im anderen der Scheck für das Elektrizitätswerk. Obwohl ich sozusagen im Epizentrum der Tech-Industrie wohne, ist E-Banking hier kaum bekannt. So fülle ich alle zwei Wochen meine Schecks säuberlich von Hand aus, stecke sie in Briefumschläge, frankiere sie und schicke sie rechtzeitig ab. Oder vergesse sie in meiner Tasche.

Da es in Amerika auch keine dreissigtägige Zahlungsfrist gibt und kein Mahnungssystem, musste ich schnell handeln, wenn ich nicht riskieren wollte, dass Victor zu Hause plötzlich im Dunkeln sass. Mein erster Gang in meiner alten Heimat führte mich folgerichtig in eine Post. Es war länger her, dass ich eine Schweizer Post betreten hatte. Ich war überwältigt: Wie schön, wie hell, wie ansprechend, wie gut organisiert alles war! Der Automat, an dem ich ein Nümmerchen zog. Die Leuchttafeln in allen Ecken, die mir anzeigen würden, wenn ich an der Reihe war. Die Regale mit Bastelmaterial, Taschenbüchern, Souvenirs, an denen ich entlangschlendere und gleich noch meine Mitbringselliste abarbeiten konnte. Die bequemen, sauberen und erst noch formschönen Stühle an der Wand, für den Fall, dass es länger dauerte. Doch ich war schnell an der Reihe, bekam meine Marken, klebte sie über die amerikanischen und schickte die Umschläge mit einem Gebet für rasche Beförderung auf ihre Reise.

Meine Freunde konnten meine Begeisterung nicht recht nachvollziehen. «Wie schlimm ist es denn bei euch?» Ich überlegte. Schlimm? Der letzte Präsident hatte die Post aus politischen Gründen so gut wie lahmgelegt. Brutale Budgetkürzungen, Massenentlassungen, sogar bereits vorhandene Sortiermaschinen wurden aus den Filialen entfernt. Die Folgen waren verheerend und sind auch nach dem Machtwechsel noch zu spüren. Für einen Gang auf die Post nehme ich mir einen halben Tag frei. Die Schlangen sind immer endlos, die Regale mit den Formularen leer, die Menschen am Schalter heillos überfordert. Und die Kugelschreiber werden auch ständig gestohlen. Traurig baumeln die Plastikketten ins Leere, an denen sie einmal befestigt waren.

Andererseits kommt man automatisch mit den anderen Wartenden ins Gespräch. Small Talk ist ein Volkssport hier. Anfangs war mir das sehr fremd, aber ich habe es schätzen gelernt. Nur schon, weil es die Zeit vertreibt. Und dann die Angestellten. Sie lassen sich ihren Stress nicht anmerken, behandeln einen bald wie Stammkunden, merken sich Namen und Gesichter. Zum Beispiel Janet. Eine ältere Frau mit langen dunklen Haaren, schmalen Augen und immer kunstvoll lackierten und dekorierten Fingernägeln. Sie begrüsst jeden Einzelnen mit einem Kompliment. Das lässt die Schlange nicht unbedingt schneller vorwärtsschreiten, aber der Tag ist gerettet.

«Ein Kompliment? Auf der Post? Ist das nicht aufdringlich?» Ich schüttle den Kopf und versuche zu beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn du an einem gehetzten Tag voller Erledigungen endlich in der Schlange vorgerückt bist und Janet dich so breit anstrahlt, dass sich ihr ganzes Gesicht in winzige Falten legt.

«Da geht ja gleich die Sonne auf, wenn du reinkommst», sagt sie. Und so, wie sie strahlt, glaube ich ihr sogar. Ich strahle zurück.

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