Milena Moser
Freundschaft ohne Grenzen

Ich habe zu viele Freunde. Das wurde mir jedenfalls gestern bei einem Abendessen gesagt, dessen Planung sich als höchst kompliziert herausgestellt hatte. Wegen mir. Wegen meiner vollen Agenda und meinem noch volleren Adressbuch.
Publiziert: 21.11.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2022 um 14:30 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neuestes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Die drei Wochen in der Schweiz lagen vor mir wie ein endlos weiter Strand am Himmel. Alles schien möglich. Doch dann begann das Telefon zu klingeln, mein Kalender füllte sich mit erschreckender Geschwindigkeit. Und schon wurde es schwierig.

«Zu viele Freunde?», protestierte ich. «Man kann nicht zu viele Freunde haben. Nur die falschen.»

Vielleicht liegt es daran, dass ich während der Schulzeit eher Mühe hatte mit Freundschaften. Mit dem Dazugehören, dem Dazupassen. All meine Lieblingsbücher handelten damals von Cliquen und Geheimclubs. Von etwas, das ich mir wünschte, das aber irgendwie nicht in meiner Reichweite lag. Als Teenager beobachtete ich die beliebten Mädchen, wie eine Biologin seltene Käfer untersucht. Ich versuchte, in ihrem Verhalten ein Muster zu erkennen, einen Schlüssel für ihre Beliebtheit.

Erst, als ich zum ersten Mal in eine andere Stadt zog und sozusagen noch einmal auf Feld eins beginnen konnte, verstand ich endlich, dass es genügte, mich selbst zu sein. Dass Dazugehören nicht zwingend mit Dazupassen und schon gar nichts mit Anpassen zu tun hat. Bald war ich von einer wild gemischten, aber verlässlichen Gruppe von Menschen umgeben, bei denen ich mich zu Hause fühlte. Die homogene Clique, den Geheimclub meiner Kinderbücher, hat es nie gegeben. Meine Freunde sind nicht in einen Topf zu werfen. Aber ab und zu versammeln sie sich um einen Tisch. Und manchmal schimpfen sie dann mit mir. Wie gestern. Sie fanden nicht nur, ich hätte grundsätzlich zu viele Freunde, es ginge auch nicht, dass immer neue dazukämen. «In unserem Alter geht das nicht mehr. Wir haben schlicht die Kapazität nicht mehr. Unsere Leben sind schon voll!»

«Das Boot ist voll, was», murmelte ich etwas gehässig. Doch ich habe tatsächlich oft ein schlechtes Gewissen. Wenn mir die Tage, wie jetzt, unter den Händen zerrinnen, wenn ich, kaum angekommen, schon wieder absagen muss. Andererseits sind meine Tage aber auch zum Platzen voll mit Leben, mit Lachen, mit Sorgen, mit Gesprächen, Mahlzeiten, Spaziergängen und Weingläsern, mit Liebe. Was könnte wichtiger sein?

In Victors Kultur gilt Freundschaft mehr als Liebe und Familie: Die sind ja sozusagen gegeben, fanden die alten Tolteken. Freundschaften hingegen verlangen Hingabe und Verbindlichkeit.

Neulich diskutierten wir an unserem Küchentisch in San Francisco die geradezu absurd hohen Lebenskosten in dieser Stadt. Wie lange wir es uns noch leisten könnten, dort zu leben, und was allenfalls eine Alternative wäre. Eine Freundin hatte schon vorrecherchiert und zählte attraktive Kleinstädte auf, nannte Zahlen und einen sinnvollen Zeitrahmen.

Sie hatte einen Plan. Ich erschrak ein wenig, doch dann dachte ich an meine Sommerferien in Maine zurück, wo ich eine Woche lang bei Freunden auf ihrem Sofa geschlafen hatte, ich dachte an meine Gastzimmertouren kreuz und quer durch die schöne Schweiz, an all die Einladungen und Angebote, die ich noch nicht mal in Anspruch genommen hatte. Ich mag keine Vorsorge, keine Versicherung und überhaupt keinen konkreten Plan für die Zukunft zu haben, aber ich habe meine Freunde. Sie sind mein grösster Reichtum, mein wichtigstes Gut.

Auch wenn ich sie manchmal enttäusche.

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