«Ich will noch mal», sagt meine Freundin. «Das ist so entspannend!» Ich stimme ihr zu. Die ungewohnte Tätigkeit erfordert unsere ganze Konzentration und volle Hingabe. Automatisch fallen all die kleinen Sorgen und Obsessionen des Alltags von uns ab. Es ist entspannend und gleichzeitig aufregend, wenigstens für mich, die ich nie eine grosse Bastlerin war und mir bis zum Schluss nicht recht vorstellen konnte, wie aus diesem Papierstreifen eine Blume werden sollte.
Doch als meine Freundin die Hand nach dem Seidenpapier ausstreckt, ruft sie die freiwillige Helferin unerbittlich zurück: «Tut mir leid», sagt sie, «nur eine Blume pro Person! Andere wollen schliesslich auch basteln.» Tatsächlich hat sich hinter uns schon eine Schlange gebildet. Also stehen wir auf und ziehen zum nächsten Tisch weiter, wo wir einfache Bilderrahmen aus Karton und Alufolie herstellen und verzieren.
Es ist Familientag im Museum in Monterey, wo Victor seine Ausstellung hat. Für diesen Tag hat er verschiedene Aktivitäten vorbereitet, vor allem für Kinder. Als ich ihn am Vorabend abholte, standen fünf Tische bereit. Doch dann kamen statt der geplanten 50 über 200 Besucher, es mussten mehr Stationen aufgestellt, mehr Material besorgt und mehr freiwillige Helfer aufgeboten werden. Das Museum platzt aus allen Nähten, und doch ist es relativ ruhig. An allen Tischen sitzen Kinder und Erwachsene, konzentriert über ihre Arbeit gebeugt. Niemand rennt herum, niemand erhebt die Stimme, niemand verliert die Nerven, nicht mal die Kleinsten. Und auch ich nicht, wenn meine Bastelei wieder ganz anders herauskommt, als ich mir das vorgestellt hätte.
Doch bald lasse ich die Hände sinken und schaue stattdessen zu. Der Grossteil der Familien ist mexikanischer Herkunft. Im eine Stunde entfernt liegenden Salinas werden Artischocken und Erdbeeren angebaut, die meisten Feldarbeiter kommen von der anderen Seite der Grenze, viele nur saisonal. Doch die, die ihre Familien dabeihaben, sind schon länger hier, ihre Kinder besuchen amerikanische Schulen. «Wir wollen nicht, dass sie den Bezug zu ihrer Kultur verlieren», sagen sie. Anderen Kindern ist diese Kultur fremd, doch sie stürzen sich mit derselben Begeisterung in die Projekte.
«In San Francisco hätte ich jetzt schon wieder Ärger», sagt Victor und deutet auf einen Tisch, an dem eine bunt gemischte Gruppe einträchtig arbeitet. «Manche sagen, wir dürfen unsere Kultur nicht mit Fremden teilen, das verwässert sie. Was für ein Blödsinn! Unsere Kultur, jede Kultur, ist immer in ständigem Wandel begriffen!»
Ein Mädchen stanzt mit einem Hölzchen verschlungene Blumenranken und Schmetterlinge in ihren Alurahmen. «Du bist total gut», sage ich zu ihr. Und sie, ohne aufzuschauen: «Ja, ich weiss.» Später erzählt sie Victor, dass sie auch Künstlerin werden will. «Ich wusste gar nicht, dass das ein Beruf ist.»
«Genau so ging es mir auch, als ich in deinem Alter war ...»
Am nächsten Tisch werden Miniaturaltare in Schuhschachteln installiert. Victor hat kleine Holzblöcke zurechtgesägt, die aufeinander geleimt und nach Herzenslust bemalt und verziert werden können. Ich stehe hinter einem kleinen Jungen und schaue über seine Schulter. «Papa», schreibt er auf seinen Altar. Er hat dieses Jahr seinen Vater verloren, erklärt seine Mutter, als sie ihn abholt. Der Junge lässt sich von Victor fotografieren, den Altar feierlich vor der Brust hochgehoben, die Augen dunkel, der Blick ernst. Dann gehen sie, die Mutter und der Junge, er trägt den Altar, sie legt die Hand auf seine Schulter. Und einen Moment lang scheint es, als wären sie wieder zu dritt.