An der Ausstellungseröffnung vor zwei Wochen zog Victors Kunstwerk die Besucher fast magisch an. Ein lichterfüllter, begehbarer Altar, ein Ort der Begegnung für die Lebenden und ihre Muertitos, ihre geliebten Verstorbenen. Die Seitenwände des Altars waren mit Seidenpapier bespannt und mit grossformatigen, stilisierten Herzen und Kolibris bedeckt. Kolibris sind Boten der Liebe und symbolisierten hier die Liebe, die den Tod überdauert, die Liebe zwischen den Lebenden und den Verstorbenen. Es schien zu funktionieren, die Vernissagenbesucher hielten sich gern in diesem Raum auf, sie riefen ihre Toten an und machten eifrig Selfies. Ich meinte sogar, meiner Mutter zu begegnen, die knapp, aber wohlwollend nickte.
«Das ist eine komplett neue Phase in deiner Arbeit», rief der Kurator. «Ganz anders als sonst, moderner, offener.»
«Es ist so hell, so freundlich», sagten die Besucher.
«Dieser Altar macht mich glücklich.»
«Tja», antwortete Victor dann jeweils unbekümmert. «Das kommt daher, dass ich kaum was sehen kann!»
Sein linkes Auge ist nämlich von einem seltenen Krebs befallen und von der Chemotherapie in Mitleidenschaft gezogen worden. Zwei Wochen vor dieser Vernissage suchte ihn ausserdem eine einseitige Gesichtslähmung heim. Da das betroffene Auge – in seinem Fall das rechte, das «gute» – nicht blinzeln kann, wird es extrem gereizt. «Wie ein Messer im Kopf.» (Keine Sorge, unterdessen sind beide Probleme unter Kontrolle beziehungsweise am Abklingen.)
Ich hätte unter diesen Umständen die Ausstellung wohl abgesagt. Nicht Victor. «So weit kommts noch», sagte er. «Ich hab schon unter schlimmeren Umständen gearbeitet.» Während wir noch auf den unbequemen Plastikstühlen in der Notaufnahme sassen, nahm er sein Skizzenbuch hervor und versuchte zu zeichnen. Er wollte abschätzen, was noch drinlag und was nicht. Die detaillierten, vielschichtigen Scherenschnitte, für die er bekannt ist, würde er nicht schneiden können, das war schnell klar. Stattdessen zeichnete er einfache Schablonen auf Karton, die ich dann mit dem Japanmesser aus dicken Schichten Seidenpapier nachschnitt.
Mir gefielen diese einfachen, durchbrochenen Herzen gleich. Sie hatten etwas Offenes, Freundliches, beinahe Kindliches. Und ich dachte an einen Film, den ich vor Jahren im Flugzeug gesehen hatte, über den Künstler Matisse, der nach einer schweren Krankheit zu schwach war, um zu malen und stattdessen im Bett liegend einfache Formen aus buntem Papier schnitt und zusammenklebte. Die Kunstwelt verlachte ihn damals, doch seine Scherenschnitte haben nicht nur überlebt, sie sind weltberühmt. Die unbändige Lebensfreude, die sie vermitteln, ist nicht zu unterdrücken. So ist es auch mit Victors Altar.
Anfangs versuchte ich ihn noch zurückzuhalten, wenn er seinen Prozess mit seinem Gesundheitszustand erklärte. «Das müssen die Leute doch nicht wissen», murmelte ich. Als würde die Tatsache, dass diese neue Bildsprache aus der Not entstanden war, seine Arbeit abwerten. Und ich fragte mich, ob er es vielleicht selbst so empfand, als eine Notlösung und keine freiwillige und überlegte Entscheidung.
Im Gegenteil. «Bis jetzt hat mich noch jedes Hindernis und jede Hürde weitergebracht», sagte Victor. «Jeder vermeintliche Rückschlag hat mich in eine Richtung gezwungen, die ich nicht mal in Betracht gezogen hatte.» Und das dürfe man ruhig wissen. «Vielleicht hilft es ja jemandem.»
Ja, mir zum Beispiel.