Auf den traditionellen Truthahn könnte ich auch verzichten, und doch habe ich das Fest mit den Jahren schätzen gelernt. Am liebsten mag ich den Moment, wenn der Reihe nach alle aufzählen, wofür sie gerade besonders dankbar sind. Das erste Mal, am Tisch unserer Nachbarin, machte mich die Aufforderung verlegen. Die Frage schien mir zu persönlich für so eine grosse Runde, von denen ich die meisten gar nicht kannte. Doch während ich überlegte, was ich sagen könnte, merkte ich, wie mir leichter wurde. Mehr und mehr Dinge fielen mir ein, die mir noch vor einer Minute gar nicht bewusst gewesen waren. Die Gewohnheit habe ich seither beibehalten, und letztes Jahr hab ich sozusagen die Extremversion davon kennengelernt. Ich war in ein absurdes Scharmützel mit der Einwanderungsbehörde verstrickt, das immer bedrohlichere Ausmasse annahm. Und da lernte ich zum ersten Mal Angst als Dauerzustand kennen. Es war, als wohne ein kleines Tier in meinem Bauch, das mit scharfen Zähnen ohne Unterlass an mir nagte, mich von innen auffrass. Meine Gedanken kreisten nur noch um «Was, wenn ...»-Szenarien.
Was, wenn ich meine nächste Lesereise auch absagen müsste? Was, wenn ich zwischen meinem Beruf, meiner Familie und Victor entscheiden müsste? Was, wenn ...
«Willkommen in meiner Realität», sagte eine Freundin, die schon länger unter einer Angststörung leidet und sich eine Werkzeugkiste voller Hilfsmittel zugelegt hat. Manche kannte ich schon, und setzte sie auch tapfer ein. Aber das war mir neu: radikale Dankbarkeit. Hier ging es nicht darum, mich auf die Dinge zu konzentrieren, die trotz allem immer noch gut waren. Denn die gab es natürlich auch. Nein, ich musste für die Ungerechtigkeit dankbar sein, die Willkür, die Bedrohung, die Angst.
Wie bitte?
«Ach, du meinst, ich soll für die Erfahrung dankbar sein, für das, was ich lerne?» Tatsächlich hat es mir als vom Schicksal verwöhnter Schweizerin durchaus gutgetan, einmal, wenn auch nur in homöopathischer Dosierung, zu erleben, was für den grössten Teil der Menschheit Alltag ist. Aber darum ging es nicht. Meine Freundin musste es mir dreimal erklären, und ich gebe zu, die ersten paar Tage fühlte ich mich absolut lächerlich, wenn ich ohne Überzeugung vor mich hinmurmelte, ich sei dankbar für das Nagetier in meinem Bauch, das Gewicht auf meiner Brust, den unruhigen Schlaf, die Albträume. Doch schon nach wenigen Tagen veränderte sich etwas. Ich fühlte mich weniger ausgeliefert. Ich schöpfte wieder Hoffnung.
Vielleicht war es nur die Tatsache, dass ich aussprach, was mich belastete. Dass ich es beim Namen nannte, statt mich in immer bedrohlichere Katastrophenszenarien zu verlieren. Dass mir bewusst wurde, dass Probleme, denen man mit mentalen Übungen begegnen kann, immer noch Luxusprobleme sind, egal wie bedrohlich und schmerzhaft sie sich gerade anfühlen. Vielleicht musste ich aber einfach auch akzeptieren, dass das Leben nun mal keine prall gefüllte Bonbonschale ist, keine Aufreihung perlglänzender Glücksmomente, einer nach dem anderen. Das Leben ist auch voller Schmerz, Verlust, Tränen. Voller Glück, Bonbons und Perlen. Das Leben ist voll. Danke, Leben.