Milena Moser
Die nächste Sonne kommt bestimmt

Die Azteken nannten die letzten fünf Tage des Jahres die leeren oder namenlosen Tage. Sie dienten als eine Art Pufferzone zwischen der Gegenwart und der Zukunft beziehungsweise der Möglichkeit, dass es gar keine Zukunft geben könnte.
Publiziert: 01.01.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 31.12.2022 um 15:39 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography
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Milena MoserSchriftstellerin

Wird es wieder eine Sonne geben? Wird die Menschheit weiterexistieren? Niemand konnte es wissen. Während dieser fünf Tage am Ende des Jahres stand alles auf der Kippe. Man liess also erst einmal alles liegen. Man tat rein gar nichts. Man wartete. Auf das Morgengrauen des letzten Tages, darauf, ob die Priester das Feuer im Tempel wieder anzündeten und damit das Weiterbestehen der Menschheit, der Zeit verkündeten. So wie der Sonnengott jeden Tag von Neuem die Kräfte der Dunkelheit bekämpfen musste, bevor er seine Reise über den Horizont antreten konnte, so war auch die Zukunft der Menschen keineswegs eine sichere Sache. Für die Azteken waren diese letzten Tage des Jahres deshalb verständlicherweise nicht die entspanntesten des Jahres.

Ich hingegen, ich habe diese Zeit immer besonders geliebt. «Die Tage zwischen den Tagen», nannte meine Mutter sie. So fühlt es sich für mich an: Irgendwie aus der Zeit gefallen, in einem luftleeren Raum. Ohne Verpflichtungen, ohne Termine. Und obwohl ich rein gar nichts über die präkolumbianische Kultur wusste, als ich Victor kennenlernte, leuchtete mir dieses Konzept der namenlosen Tage sofort ein. Vom quasi gesetzlich vorgeschriebenen Nichtstun gar nicht zu reden!

In den vergangenen Jahren hat mich allerdings das Bangen der alten Azteken ein wenig eingeholt. Ich kann die Augen nicht verschliessen. Die Welt kracht in den Fugen, die schlechten Nachrichten beissen einander in den Schwanz. Und im Gegensatz zu den aztekischen Priestern haben uns die Wissenschaftler schon lange verkündet, dass es so nicht weitergehen könne, nicht weitergehen würde, jedenfalls nicht mehr lange. Auch mein einst unerschütterliches Urvertrauen wurde von der Realität der vergangenen Jahre ins Wanken gebracht. Aber nicht ausgelöscht.

«Ich habe irgendwie ein gutes Gefühl», sagte ich vor ein paar Tagen zu Victor. «Frag mich nicht, warum!» Doch am selben Tag wurde endlich und vollkommen überraschend unser vor mehr als einem Jahr gekaufter Gasherd endlich angeschlossen. Von der Lieferung über die Installation ging alles mehrmals schief, jeder Schritt brauchte mehrere Anläufe, jede neue Truppe von Fachleuten richtete neuen Schaden an. Seit über einem Jahr kochten wir also auf einer einzigen elektrischen Herdplatte und mithilfe eines Toaster-Miniofens. Victor telefonierte sich durch ein halbes Telefonbuch, wurde abwechselnd vertröstet und angeschnauzt. Schliesslich fand er das einzige Fachgeschäft in der Gegend, das diese Marke führt, und konnte nach langem Hin und Her einen Techniker für Ende Februar buchen. Die Dame am Telefon war allerdings nicht gerade freundlich.

«Was haben Sie denn für einen Akzent?», fragte sie. «Sind Sie Mexikaner?»

«Mexikaner? Ich? Nein, ich bin Franzose!»

Es ist beschämend, nein, brechreizerzeugend, wie schnell sich ihr Ton veränderte. Sie versprach, ihn bei der nächsten Absage gleich zu berücksichtigen. Und genau das passierte an einem dieser namenlosen Tage zwischen den Tagen. Wenn das kein gutes Zeichen ist, dann weiss ich auch nicht. Und so brannte am letzten Tag des Jahres auch in unserem Haus ein Feuer der Hoffnung. Nicht von einem Priester entzündet, sondern von meinem Mann, dem Meisterkoch. Und nicht in einem Tempel, sondern unter einem Kochtopf. Und wir prosteten uns auf Französisch zu: «Au prochain soleil!»

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