Er zeigte mir die am extravagantesten dekorierten Häuser in der Gegend und klapperte mit mir alle Weihnachtsapéros ab, an denen es süssen Eierlikör und Christstollen gab. An Weihnachten selber bestand er darauf, mindestens vier Partys zu besuchen, und überall liess er sich Gebäck einpacken. Wochenlang strahlte er wie ein Kind. Obwohl er dem Christentum an sich, wie viele Angehörige zwangsmissionierter Völker, eher kritisch gegenübersteht. Aber Weihnachten ist etwas anderes. «Die Winterwende wurde schliesslich in allen Kulturen gefeiert», erklärte er schulterzuckend und bot mir ein überdimensioniertes, rot-weiss gestreiftes Weihnachtsbonbon an.
Als ich ihn besser kannte, verstand ich, dass er grundsätzlich keine Gelegenheit zum Feiern auslässt. Obwohl oder gerade weil er so viel Zeit seines Lebens in Arztpraxen, Notaufnahmen und Krankenhausbetten verbringt. Und ich liess mich von seiner Begeisterung neu anstecken. Für mich hatte das Ende des Familienlebens im traditionellen Sinn erst einmal auch das Ende aller Weihnachtstraditionen bedeutet. Und wenn ich ehrlich bin, dann war das nicht nur schmerzhaft, sondern auch eine Erleichterung. Der Stress, der mit den Feiertagen einhergehen kann, ist nicht zu unterschätzen. Und, so wurde mir mit etwas Abstand klar, meist selbstgemacht. Oder wenigstens in meinem Fall. Deshalb konnte ich diesen feiertagsfreien Zwischenjahren ohne Tradition, aber auch ohne Erwartungen und Ansprüche, und deshalb ohne Stress, durchaus etwas abgewinnen.
Doch mit Victor lernte ich, dass ich beides haben kann. Den ganzen Weihnachtskitsch, den ich immer geliebt habe, und die Freiheit, nichts zu müssen. Ich backe mit Begeisterung all die altmodischen Schweizer Weihnachtsguetzli, die bei mir immer leicht scheps herauskommen, aber hier mit ihrem «Old World»-Bonus bestechen. Ich überlade das ohnehin das ganze Jahr mit Lichterketten und Scherenschnittflaggen dekorierte Wohnzimmer mit allem, was blinkt und leuchtet. Ich kaufe zwei Weihnachtsbäume und stifte einen dem Frauenhaus. Einmal wurde ich deswegen sogar von zwei zufällig anwesenden Nonnen feierlich gesegnet. Weihnachtlicher gehts wohl nicht mehr! Manchmal haben wir Gäste, manchmal gehen wir zu Freunden, manchmal liegen wir im Bett und schauen «Der kleine Lord». Jedes Jahr freue ich mich wie ein Kind. An Weihnachten ist alles möglich.
Und das war ja genau genommen immer schon so. Im Nachhinein kann ich es nicht mehr erklären, warum ich meinte, ich müsse unbedingt all diesen eingebildeten oder zum Teil auch realen Erwartungen gerecht werden, all diese Vorstellungen erfüllen und Ideale imitieren. Je besser ich es machen wollte, desto erschöpfter war ich, je näher die Feierlichkeiten rückten, desto dünner meine Nerven.
Meine Mutter, die immer ein untrügliches Gespür für den wunden Punkt hatte, sprach während einer solchen Weihnachtsfeier aus, was vermutlich alle dachten: «Es ist einfach nicht schön, wenn du so gestresst bist, da kann sich ja kein Mensch wohlfühlen!» Damals konnte ich das nicht hören. Ich fürchte, ich brach in Tränen aus, was auch nichts zur Verbesserung der Stimmung beitrug. Doch im Nachhinein war ich ihr dankbar, denn sie hatte recht. Weihnachten hat nichts mit Perfektion zu tun. Das Einzige, was wirklich zählt, ist die Freude. Und die Liebe. Für alles andere wurde der Pizzakurier erfunden. Oder, in unserem Fall, der Taco-Truck.