Beim Kauf eines Weihnachtsbaums sind wir immer eher spät dran und haben dann oft keine grosse Auswahl mehr. Dafür sinken die Preise Ende Monat. Dieses Jahr allerdings kosten auch die zerrupftesten Besen noch ein kleines Vermögen. Der Krieg, die Unterbrüche der Lieferketten und die Inflation machen auch vor Weihnachten nicht halt. Viele Freunde verzichten deshalb. Oder aus Prinzip, aus Liebe zu den Bäumen. Was ich durchaus richtig finde.
Andererseits wird der Weihnachtsbaummarkt von einer Stiftung betrieben, die Strafentlassene wieder eingliedert. Sie betreibt auch ein Restaurant in der Stadt, und ich schwöre, man wird nirgends aufmerksamer und freundlicher bedient.
Das amerikanische Justizsystem ist fürchterlich korrupt, gewinnorientiert betriebene Gefängnisse eine Schande für ein zivilisiertes Land, die Verhältnisse sind meist unvorstellbar, unmenschlich, brutal. Und die widersprüchlichen Auflagen machen es den meisten Strafentlassenen unmöglich, wieder auf die Füsse zu kommen. Wenn es eben solche Organisationen nicht gäbe.
Es ist ein aussergewöhnlich kalter Nachmittag, und es kommt fast so etwas wie Winterstimmung auf, als wir uns die Hände reiben und mit den Füssen stampfen. «Kann ich euch helfen?» Wir schauen uns die magere Auswahl der Bäume an, und wir sind nicht etwa die Einzigen. Die Angestellten in ihren roten Jacken und Pullovern sind beschäftigt.
Nach einer Weile gesellt sich Russ zu uns, ein erstaunlich dicker Mann, der nur ein kurzärmliges rotes T-Shirt mit dem Logo der Organisation trägt. Als er näher tritt, wird klar, dass seine gute Laune, seine rote Nase und seine Kälteunempfindlichkeit vermutlich auch auf einen Schnaps oder zwei zurückzuführen sind. Aber er versteht etwas von Bäumen, führt uns hierhin und dahin, erklärt uns die Preisunterschiede und weist uns auf unterschiedliche Duftnoten hin. «Es soll doch auch nach Weihnachten riechen!»
Als wir uns entschieden haben, winkt er einen älteren Mann herbei, der wartend an den Zaun gelehnt stand. Er trägt einen abgeschabten Mantel, und als er uns schüchtern zulächelt, sehen wir, dass ihm die meisten Zähne fehlen.
«Das ist Frank», sagt Russ. «Er wird euch den Baum raustragen.» Dann zieht er mich zur Seite. «Wir arbeiten nicht auf Kommission», sagt er leise. «Aber wir schätzen ein gutes Trinkgeld.» Das finde ich jetzt ein bisschen direkt, aber was solls, es ist bald Weihnachten, und was immer ich dieses Jahr eingebüsst habe, es geht mir bestimmt besser als Russ. Ich fasse also in meine Tasche. Russ greift nach meinem Arm. «Nicht doch!», ruft er empört. «Nicht für mich, für Frank! Der arme Kerl steht mit einem Fuss auf der Strasse. Er gehört zwar nicht direkt zu unserer Organisation, aber wir helfen ihm so unter der Hand ein wenig aus.»
Ich nicke, beschämt und gleichzeitig gerührt. «Okay, klar.»
Frank bindet unseren Baum mit einer Schnur zusammen, hievt ihn auf seine Schulter und folgt Victor zu seinem Truck. «Oh, Mann, was für ein toller Truck!», ruft er. Und nachdem er den Baum umsichtig auf der Ladefläche befestigt hat, umarmt er Victor spontan. Ich stecke ihm eine Note zu, er umarmt auch mich und wünscht uns beiden ein schönes Fest. Ich schaue ihm nach, als er wieder zu den Bäumen zurückschlurft und sich an den Zaun lehnt. Russ, der bereits die nächsten Kunden bedient, dreht sich zu mir um und hebt den Daumen hoch.